Es ist bewölkt, aber der Sonnenaufgang sorgt heute für einen rosafarbenen Schein. Ich bin früh wach. Eine Sache, auf die ich gerne bald verzichte, sind die eisigen Finger, wenn ich morgens das Zelt abbaue. Aber es wird mir fehlen, draußen zu schlafen. Ich liebe es im warmen Schlafsack zu liegen, um mich herum die Luft ganz kalt.

Gegen halb 9 wird der Berg vor mir angestrahlt und ich freue mich schon, auch ein paar Sonnenstrahlen abzubekommen. Aber kurz darauf sind sie wieder verschwunden. Die Sonne hat nur kurz den Spalt zwischen Bergen und Wolken genutzt.

Ich gehe hinauf und wieder hinab. Nochmal und über noch einen Berg. Der Boden unter dem Schnee ist überwiegend steinig. Aber entgegen meiner Befürchtungen kann ich auf dem Schnee gut laufen. Wahrscheinlich macht er es mir sogar einfacher, da er die meisten Lücken im Geröll schon gut ausfüllt. Aber auch wenn ich nicht so tief einsinke – bei den meisten Schritten bis zum Knöchel – ist es richtig anstrengend durch den Schnee zu stapfen. Dabei muss ich noch auf Lücken und steile Kanten von Steinen achten. Ich komme sehr langsam vorwärts.

Viele Markierungen sind wahrscheinlich schon ganz vom Schnee verdeckt. Meine Augen sind ständig auf der Suche nach roter Farbe. Manchmal kann ich sie nur erahnen. Diese Markierung ist noch gut zu erkennen.

Auch eine Stunde später ist der wolkenfreie Streifen am Himmel noch ganz knallig orange verfärbt.

Ich komme an einem See vorbei. Ich erkenne das Wasser nur daran, dass die weiße Fläche so glatt ist. Dann geht es hinauf zum Bjørnviktuva. Auf dem Weg nach oben kann ich einen Blick auf das dunkle Meer und steile Felsen erhaschen.

Eigentlich sollte es doch gar nicht so dicht bewölkt sein. Aber das Wetter macht eben, was es will. Es ist ziemlich windig und schneit immer wieder. Solange es nicht regnet, ist mir das egal. Ich bin dick angezogen und friere nicht. Nur im Gesicht ist der Wind echt eisig und meine Augen tränen. Der orangefarbene Streifen bleibt den ganzen Tag. Als ob die Sonne direkt nach dem Aufgang schon wieder bereit ist, unterzugehen. Hoch steigt sie nicht mehr. In ein paar Wochen haben die Leute hier oben nur noch 2 Stunden Dämmerung am Tag, ansonsten bleibt es dunkel.

Ich mache einen kurzen Abstecher zum Gipfel, wenn ich schon mal hier bin. Auch wenn der nicht direkt auf meinem Weg liegt und ich nach der Hälfte die blöden Steine unter meinen Füßen verfluche. Aber jetzt umzudrehen wäre auch blöd. Also gibt es noch ein Gipfelfoto auf dem Bjørnviktuva auf 320 Meter Höhe.

Es ist gut, dass Vidar mir seine Schuhe geliehen hat. So habe ich wenigstens ein ordentliches Profil und rutsche weniger hin und her. Bei meinen Schuhen ist die Sohle unten ziemlich glatt gelaufen. Mir fällt allerdings auf, dass ich in diesen dicken Bergstiefeln weniger vorsichtig gehe. Sie fühlen sich an, wie ein Panzer an meinen Füßen. Da kann mir ja kein Stein was anhaben. Ich mag es, in meinen leichten Schuhen einen besseren Bodenkontakt zu haben. Für jetzt bin ich froh über die Stiefel, aber mit ordentlichem Profil wäre die Strecke auch in meinen Schuhen kein Problem. Jedenfalls für meine trainierten Füße nicht. Das ist auf keinen Fall eine allgemeingültige Empfehlung an andere. Ohne gut ausgebildete Fußmuskeln und angepasste Bänder und Sehnen ist das wahrscheinlich nicht so lustig in diesem Gelände.

Die Aussicht von hier oben ist klasse, wenn auch ziemlich dunkel heute.

Dann geht es wieder zurück auf den markierten Weg. Beziehungsweise einfach von einer Markierung zur nächsten. Von einem Weg zu sprechen wäre zu viel. Es ist mehr querfeldein Gehen mit gelegentlichen Markierungen für die richtige Richtung. Entweder blitzt irgendwo ein bisschen rote Farbe durch den Schnee oder es sind Steine aufgetürmt.

Gegen den Wind geht es weiter steinig wieder nach unten. Am See Bjørnvikvannan entdecke ich einen Fleck, wo es möglich wäre, mein Zelt aufzustellen. Zur Sicherheit markiere ich mir die Stelle auf meiner Karte. Ich habe noch keinen genauen Plan, wie weit ich morgen gehe. Heute möchte ich gerne in einer kleinen Schutzhütte unterhalb des Kinnarodden schlafen. Als ich am See vorbei bin, geht es noch ein Stückchen hinauf und die Steine werden etwas flacher. Das macht es einfacher. Ich bin schon ziemlich fertig und das nach nur 6 Kilometern. Meine Beine sind schwer und meine Füße schmerzen ein bisschen. Sie sind es nicht mehr gewohnt, in steifen Bergstiefeln eingeengt zu sein.

Es geht über weite Ebenen und jetzt flachere Hügel. An Seen vorbei und runter in ein schmales Tal. Vidar meinte, mich erwartet hier ein grünes, geschütztes Tal, wo man gut zelten kann. Ich sehe nur weiß. Aber der Boden ist weicher unter dem Schnee. Das ist eine schöne Abwechslung.

Ich folge dem Fluss und fülle hier auch alle meine Behälter mit Wasser. Auf dem weiteren Weg gibt es kein Süßwasser mehr. Die knapp 4 Kilogramm mehr im Rucksack machen sich heute ziemlich in meinen sowieso schon müden Beinen bemerkbar.

Es folgt noch ein bisschen Geröll am Hang, dann eine weite sumpfige Ebene. Plötzlich stehe ich vor dieser Infotafel. Links liegt Sandsfjord, zu dem Sandstrand gehe ich morgen auf dem Rückweg. Heute gehe ich auf direktem Weg nach Norden zum Kinnarodden. Nur wenn es nebelig ist, sollte man den unteren Weg nehmen. Aber heute habe ich eine klare Sicht.

Von hier oben kann man den Strand noch gar nicht sehen. Da freue ich mich schon drauf, seit ich mir während der Planung Fotos angeschaut habe.

Aber heute steht ja ein nicht weniger spannendes Ziel auf dem Programm. Also lasse ich die Bucht links liegen und folge den Markierungen hinauf zum Reipnakktinden.

Auf dem Weg kommt kurz der Magkeilfjorden rechts von mir in Sicht. Dann ist das Meer wieder verschwunden.

Ich hätte vorher gedacht, dass ich auf dieser Strecke schon mehr Wasser um mich herum sehe. Aber dafür ist diese letzte Hochebene zu weit und wahrscheinlich hängen die Wolken auch zu tief, so dass ich nicht weit genug gucken kann.

Zumindest kann ich hier relativ entspannt gehen. Das ist einfach. Unter dem Schnee vermute ich überwiegend Gräser und Flechten.

Allerdings zieht es sich ziemlich. Der wabenartige Boden sieht lustig aus. Aber die letzten 5 Kilometer hat sich meine Sicht noch nicht geändert. Weites, weißes, flaches Land. Irgendwann muss doch vor mir das Meer in Sicht kommen.

Da, endlich. Ich kann es sehen. Der Schnee wird weniger und es wird wieder steiniger.

Jetzt ist es nicht mehr weit. Einmal steil hinunter und wieder hinauf. Mehr Festland gibt es nicht in die Richtung. Allerdings werden mir wortwörtlich noch einige Steine in den Weg gelegt. Nah an der Kante der steilen Klippe entlang geht es über durcheinandergewürfeltes Geröll hinab. Steil, rutschig, mit großen Löchern zwischen den Steinen. Es ist schrecklich. Und ich bin doch schon am Ende mit meiner Kraft nach dem ganzen Schnee-Gestapfe.

Allerdings bin ich ziemlich überwältigt, wie schön es hier ist. Nach links habe ich eine tolle Sicht auf den Kinnar-Sandfjorden und steile Felsen, die aus dem Meer ragen. Ich verspüre irgendwie gar keine große Aufregung, dass ich mein Ziel gleich erreiche. Vielleicht, weil ich hier noch nicht fertig bin mit Wandern. Ich muss ja auch wieder ein bis zwei Tage zurück nach Mehamn laufen. Ich freue mich einfach riesig über die grandiose Landschaft.

Langsam und vorsichtig geht es also die Steine hinab. Die 150 Höhenmeter kommen mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Aber dann ist es geschafft und ich stehe in dem schmalen Einschnitt vor der Steilklippe. Natürlich nehme ich hier auch noch schnell den nördlichsten Geocache mit.

Dann geht es wieder hinauf. Genauso steil, aber zumindest mit mehr Flechten und nur ein paar Geröllstreifen.

Ich möchte so weit es geht an den Rand. Möglichst nah an den nördlichsten Punkt heran. Es geht nochmal durch eine kleine Senke. Hier habe ich schon einen ersten Blick auf die steil abfallenden Felsen.

Und dann ist es soweit. Ich komme an einem riesigen Steinmännchen und einem Kreuz vorbei. Aber es geht noch ein Stück weiter. Ich folge dem Trampelpfad, der mich bis zur nördlichsten Spitze führt. Hier ist die Welt zu Ende. Könnte man zumindest meinen. Vor mir liegt das Nordpolarmeer, der arktische Ozean, das nördliche Eismeer. Alles dasselbe, alles Namen für den kleinsten Ozean unserer Erde. Mich trennen noch ungefähr 2.000 Kilometer vom Nordpol und dazwischen liegt nur Spitzbergen.

Ich habe es geschafft! Nach 165 Tagen und 3.120 Kilometern, der Überschreitung von 14 Breitengeraden, stehe ich am nördlichsten Punkt des norwegischen und auch des europäischen Festlandes. Am Kinnarodden. Hier geht es nicht mehr weiter.

Ich stehe eine Weile einfach da und schaue aufs Wasser. Denke an den Start meiner Wanderung, wo ich nach Süden auf die Nordsee geschaut habe. Aber dass ich jetzt vom Kap Lindesnes bis zum Kap Nordkinn gelaufen bin, will nicht so richtig in meinen Kopf. Ich kann die Wanderung nicht komplett überblicken. Ich habe doch einfach nur jeden Tag meine Schuhe geschnürt und geschaut, was so kommt. Einen Fuß vor den anderen gesetzt.

Es ist kurz nach 15 Uhr und viel Zeit kann ich mir nicht lassen. Zur kleinen Schutzhütte sind es zwar nur zwei Kilometer, aber ich möchte dort ankommen, bevor es dunkel ist. Die Sonne geht ja gleich schon unter. Außerdem kommt von rechts über das Wasser eine Nebelwand auf mich zu und der Wind wird stärker. Im selben Moment, als ich den Nebel sehe, gibt meine Uhr eine Unwetterwarnung von sich. Das heißt, dass der Luftdruck sich innerhalb der letzten halben Stunde statk verändert hat. Das muss nichts heißen, aber ich mache lieber, dass ich von dieser Klippe runterkomme.

Hier noch ein Blick Richtung Süden, wo ich hergekommen bin.

Ich gehe das erste Stück denselben Weg zurück, den ich gekommen bin. Wieder durch die kleine Senke, wo ich jetzt schon die ersten Sonnenuntergangs-Farben sehe.

Es ist Viertel nach 3 und die Sonne schenkt mir zur Belohnung einen der schönsten Sonnenuntergänge, die ich je gesehen habe. Es ist traumhaft.

Die Steine werden in ganz warmes, orangefarbenes Licht getaucht.

Und der Blick zum westlichen Horizont ist einfach magisch.

Ich gehe über den breiten Felsen, der etwas weiter so steil ins Wasser abfällt. Links von mir der tiefe Einschnitt, wo ich vorhin schon durch musste. Da geht es jetzt wieder hinunter und dann nach ganz unten zum Wasser. Ich habe einen immer besseren Blick auf die Bucht des Kinnar-Sandfjorden. Wenn es nicht so diesig wäre, könnte ich Richtung Westen auch das Nordkap sehen. Ich kann zwar ein paar Landzungen erahnen, aber nicht mehr erkennen.

Immer wieder bin ich von dieser traumhaften Kulisse und dem Sonnenuntergang abgelenkt. Links von der steilen Spitze geht es hinunter.

Erst noch über Flechten und wenige Steine. Dann liegt wieder ein großer Geröllhang vor mir. Ich hoffe, dass ich hier bis ganz nach unten komme. Und zwar auf beiden Beinen stehend.

Ich folge der Rinne. Es ist steil und blöd zu gehen, aber ich komme unten an. Ich bin froh, als ich wieder Gras unter den Füßen habe.

Nochmal der Blick zurück. Die steile Flanke bin ich heruntergestiegen.

Jetzt sind es nur noch ein paar hundert Meter bis ich die kleine Holzhütte entdecke. Als ich sie von außen sehe, denke ich erst, dass das wieder so eine heruntergekommene und zugemüllte Hütte ist. Aber drinnen ist es relativ sauber. In dem kleinen Raum sind ein paar Holzbretter als Bank über zwei Kisten gelegt. Davor ein Tisch. Und es gibt sogar Kerzen. Dann kann ich es mir ja schön gemütlich machen in der Sandfjordgammen. Ein Hüttenbuch gibt es auch.

Ich breite Matte und Schlafsack auf der Bank aus und ziehe mich um. Es ist ganz schön kalt, aber hier drinnen bin ich vor dem Wind geschützt. Zeit für ein ordentliches Festmahl. Ich esse zwei Real Turmat Gerichte und dann gibt es noch Kekse und Zimtschnecken. Dazu das einzige Getränk, das ich im Supermarkt gefunden habe, das alkoholfrei ist und nicht komplett aus Zucker besteht. Es stellt sich als Sprudel mit Zitronen- und Granatapfelaroma raus. Also – wer stößt mit mir an?

Ich verschicke das Bild mit dem wenigen Empfang, den ich hier habe und freue mich, als meine Familie tatsächlich mit mir anstößt. Wenn auch viel zu weit weg.

Ich mache den Brief von meinen Eltern auf, der in meinem letzten Paket war. Ich lese ihn gleich mehrmals und als ich so die ersten Glückwünsche empfange, begreife ich ganz langsam, dass ich es tatsächlich geschafft habe. Dann ist der Moment aber auch wieder vorbei. Es fühlt sich alles noch so normal an. Wie jeden anderen Tag auch, werde ich morgen früh meinen Rucksack packen, die Schuhe schnüren und losgehen.


20,3 km
6:40 h
761 hm
893 hm
324 m