Heute steht mal wieder ein wegloser Tag an. Wo genau ich hergehe, weiß ich noch gar nicht. Das entscheide ich spontan, wenn ich sehe, wie schwierig das Gelände ist. Da das Wetter nicht ganz so toll sein soll, wäre die sicherste Option wahrscheinlich, wenn ich dem Rauddalen folge und am Raudvatnet entlanggehe. Dahinter fängt ein Pfad an, dem ich runter nach Bones folgen kann. Meine ursprüngliche Planung führt über den Berg Reavri und nah an der schwedischen Grenze entlang steil hinab zur Stordalsstua. Allerdings gibt es nur einen relativ schmalen Streifen, wo die Höhenlinien so aussehen, als wäre es nicht zu steil. Und Ketil hatte mir davon abgeraten. Zumindest soll es laut Vorhersage heute noch trocken sein und ab morgen erst regnen. Das ist schonmal gut.

Ich rechne damit, dass der Himmel bewölkt und grau ist. Durch die Zeltwand sieht es nicht nach Sonne aus, dafür ist es zu düster. Ich bin sehr erstaunt, als ich den Reißverschluss öffne und über mir einen klaren und fast wolkenlosen Himmel entdecke. Ja, perfekt! Mein Zelt liegt nur im Schatten, die Sonne versteckt sich noch hinter dem Berg. Das ist ja mal eine schöne Überraschung und absolutes Gipfel-Wetter. Da brauche ich gar nicht lange überlegen. Ich habe Lust, es zu versuchen und den Reavri zu besteigen. Wenn es nicht klappt, geht es eben weiter ins Rauddalen, statt soweit nach oben. Und auch wenn ich es bis zum Gipfel schaffe, kann ich dann immer noch entscheiden, wo es weitergeht.

Als die Sonne endlich hinter dem Berg hervorkommt, lasse ich meinen Schlafsack noch ein bisschen trocknen. Inzwischen glaube ich nicht mehr, dass er außen so nass ist, weil das Kondenswasser vom Zelt darauf tropft. Das läuft nämlich nur die Wände herunter und tropft gar nicht. Das Wasser wird direkt auf meinem Schlafsack kondensieren. Wenn ich nachts schwitze, wird der Schweiß nach außen transportiert und trifft auf die kalte Hülle. Und wenn es nicht ganz so eisig ist, schwitze ich schon recht viel in meinem dicken Winterschlafsack. Ich habe gestern Abend ausprobiert, meinen großen Packsack, also quasi eine riesige Plastiktüte, über das Fußende des Schlafsacks zu ziehen, damit es trocken bleibt. Das war aber eine blöde Idee. Noch bevor ich eingeschlafen bin, war der Schlafsack unter der Tüte nass. Da hätte ich wahrscheinlich eher im Schlafsack meine Füße hineinstecken müssen. Naja, mal schauen, ob ich das Problem nur habe, wenn es dazu noch so windstill ist, wie die letzten Nächte.

Ich stelle meinen Kompass ein und peile den Hang rechts von mir an. Es geht ein Stückchen hoch, durch eine Schneise zwischen den Felsen. Als ich oben stehe, habe ich das erste Mal einen unverdeckten Blick auf den Gebirgszug, wo ich rüber möchte. Allerdings zieht genau jetzt eine große Wolke darüber hinweg und hüllt den oberen Teil in weiße Schleier. Hoffentlich verzieht sie sich wieder, damit ich mir einen Weg zurechtlegen kann. Da sind nämlich einige hohe Felsstufen am Hang verteilt.

Mein Blick ist die ganze Zeit auf den Berg gegenüber gerichtet und ich schaue mir die steilen Hänge und hohen Felsen an. Dabei muss ich erstmal von diesem Buckel herunterkommen, der auch recht steil ist. Also hefte ich den Blick auf den Boden vor mich. Ich komme an noch einer Hütte vorbei und muss dann über eine ziemlich sumpfige Ebene. Inzwischen hat die Wolke sich aufgelöst und ich habe wieder freie Sicht nach oben.

Hier soll ein Wanderweg hergehen, vom Bukkedalen quer rüber nach Schweden. Ich habe allerdings vorher schon gelesen, dass der schon lange nicht mehr gepflegt wird und es keine Markierungen mehr gibt. Also wundert es mich nicht, dass ich zwar einen schwachen Pfad entdecke, ihn aber auch nach ein paar Metern schon wieder verliere. Egal, ich gehe einfach weiter nach Kompass. Ist sowieso die Frage, ob und wie ich jetzt auf diesen Berg hinaufkomme. Zumindest ist er grün, es geht über Wiese und Moos und gibt keine rutschigen Felsplatten. Wenn man sich die Höhenlinien anschaut, hat der Berg quasi mehrere Etagen. Immer ein steileres Stück und dann eine kleine Ebene. Ich suche mir die Stellen heraus, wo die Höhenlinien am meisten Abstand zueinander haben.

An einem Bach entlang mache ich mich an den ersten Anstieg. Ich stapfe mit kleinen Schritten und in Kehren die steile Wiese hoch. Das nächste Hindernis ist die Felskette weiter oben. Die Felsen sehen zu steil aus, da muss ich einen Weg drumherum finden. Sieht so aus, als könnte die Flanke links davon, um die Ecke, funktionieren.

Der Ausblick zurück ist super.

Ich gehe langsam und es ist echt anstrengend, weil es so steil ist. Aber dadurch, dass ich die ganze Zeit damit beschäftigt bin, die Umgebung nach meinem weiteren möglichen Weg abzusuchen, verfliegen die Höhenmeter ziemlich schnell. Nur noch 200 Höhenmeter, da oben wird es felsiger. Ich muss wieder ein Stück runter und über ziemlich aufgeweichten Boden durch die Senke. Hier ist der Schnee bestimmt noch nicht lange weg getaut. Ob ich da oben einen Weg durch die hohe Felsstufe und am großen Schneefeld vorbei finde?

Ich gehe erstmal weiter, damit ich einen besseren Blick habe. Aber auch wenn man unten steht, kann man manchmal noch schwer einschätzen, wie steil es wirklich wird. Ich schaue ja nicht von der Seite, sondern stehe direkt davor. Ich mache eine kleine Pause und scanne die Felsen mit meinen Augen. Mir fällt eine Stelle mit einem schmalen Grünstreifen zwischen 2 steilen Felswänden auf. Das ist meine Chance. Ansonsten muss ich es viel weiter links versuchen, rechts wird es zu steil. Viel schneller als gedacht, erreiche ich den Durchstieg und hatte tatsächlich den richtigen Blick. Sogar einen Pfad entdecke ich hier. Wenn die Tiere auch diesen Weg nehmen, muss es ja möglich sein. Ich freue mich riesig, dass es nicht zu steil und ziemlich einfach ist. Nach rechts finde ich noch eine Nische zwischen den Felsen und dann stehe ich oben. Das war die letzte Etage, jetzt geht es etwas leichter weiter zum Gipfel.

Ich bin die ganze Zeit schon richtig gespannt auf den Blick, wenn ich endlich auf die andere Seite schauen kann. Auf den Gletscher und den Eissee. Ich gehe durch eine Schlucht, vorbei an einem großen Schneefeld. An einem See vorbei, der sich aus dem Schmelzwasser gebildet hat und über Felsen wieder leicht hinauf. Und dann habe ich einen ersten Blick auf den Gletscher am Beassetčohkka. So schön! Hier bin ich schon ein Stückchen weiter gegangen und habe einen noch besseren Blick. Die linke Spitze ist der höchste Gipfel mit 1.420 Metern.

Nur den See kann ich noch nicht sehen. Also geht es weiter. Über Felsen und lose Steine. Nur noch da vorne hoch, noch 100 Höhenmeter, dann bin ich am Gipfel.

Jippieh, ich habe es geschafft. Nicht mein höchster wegloser Gipfel, aber trotzdem der mit dem größten Anstieg. Und ich bin einfach so ein Glückspilz mit dem Wetter. Ich bin super glücklich. Auf den letzten Metern kam mein Gipfel-Grinsen wieder zum Vorschein und jetzt stehe ich oben auf dem Reavri auf 1.101 Meter Höhe.

Da unten kann ich sogar den kleinen See sehen, wo ich letzte Nacht geschlafen habe.

Ich mache eine lange Pause. Auch wenn die Sonne mich anstrahlt, ist es kühl und ich ziehe Mütze und Handschuhe über. Ich habe gestern Abend schon meine Nudeln eingeweicht, die gibt es jetzt. Ich sitze auf dem platten Felsen und schaue in die Ferne. Auf dem nächsten Gipfel, dem Reavrremuvra entdecke ich den großen gelben Steinturm, der die Grenze markiert. Und daneben sehe ich ganz klein 2 Menschen stehen. Da bin ich wohl nicht die Einzige, die bei dem herrlichen Wetter hier oben weglos herumturnt.

Jetzt muss ich mich entscheiden. Entweder ich suche mir einen Weg nach Westen, zwischen Gletscher und See entlang und weiter runter ins Rauddalen. Oder ich steige nach Osten ab und schaue, wie steil es wirklich ist. Auf die Gefahr hin, dass ich umdrehen und 300 Höhenmeter wieder hoch muss, um doch den anderen Weg zu nehmen. Durch den Blog des norwegischen Trailrunners, den ich gefunden hatte, weiß ich, dass der Abstieg möglich ist. Allerdings ist er im unteren Teil über Schweden gelaufen. Das kommt für mich ja nicht in Frage und wenn es nur 100 Meter sind. Da bleibe ich stur. Vor allem jetzt, wo ich schon so weit gekommen bin. Dann würde ich eher umdrehen, wenn es nicht klappt. Aber versuchen möchte ich es trotzdem. Wenn es klappt, würde es mir locker 1 bis 2 Tage einsparen. Der Weg durch das Rauddalen ist nämlich eine ganze Ecke länger und eben auch komplett weglos. Schnell würde ich also nicht vorankommen. Hier wäre ich nach 3 Kilometern wieder auf dem Wanderweg. Also los, auf ins Abenteuer.

Die ersten 100 Höhenmeter sind einfach und es geht über Felsen und Moos hinab. Mit einem schönen Blick zurück auf den Isvatnet und den Gletscher. Der See ist so klar dunkelblau und spiegelglatt. Dazu die steile Flanke des Istind auf der anderen Seite mit zig schmalen Wasserfällen. Einfach traumhaft.

Dann stehe ich plötzlich vor meinem ersten unüberwindbaren Hindernis. Einem riesigen, richtig steilen Schneefeld. Da komme ich nicht heile rüber. Kurz überlege ich, es auf meiner Höhe und nicht nach unten zu queren. Aber nein, viel zu riskant. Zumal es gefroren ist und ich gar keine Kerben in den Schnee hauen kann.

Die Felsen links von mir sind steil, aber irgendwie finde ich einen Weg hinab. Ein Schritt nach dem anderen. Irgendwo finde ich immer eine kleine Lücke, eine niedrigere Stufe oder einen kleinen Steinrutsch, den ich hinabsteigen kann. Zwischendurch bleibe ich noch ein paar Mal stehen und schaue zurück auf den schönen See.

Ich komme direkt unterhalb des Schneefeldes raus und gehe über diese Ebene. Es bleibt spannend, da ich immer nur bis zur nächsten Kante schauen kann. Wie steil es dahinter ist, bleibt noch eine Überraschung.

So sieht es dann bis zur nächsten Kante aus. Bis ganz nach unten ins Tal kann ich immer noch nicht sehen. Es ist steil und ich muss ein paar Felsstufen umlaufen, aber mit vorsichtigen Schritten schlängele ich mich den Berg hinunter. Zwischendurch schaue ich aufs Handy, um nicht über die Grenze zu treten.

Es ist ein Abstieg mit herrlicher Aussicht nach Schweden rüber. Die Grenze verläuft nur ein paar Meter neben mir.

Dann wird es etwas felsiger und die Stufen höher, aber auch hier finde ich immer einen Abstieg über die Wiese. Ich rutsche auf nassem Moos aus und lande weich auf dem Hintern. Nur mit meinem rechten Ellenbogen haue ich auf einen Stein. Aua! Im Moment muss meine rechte Seite ein bisschen leiden. Gestern bin ich auf nasser Erde ausgerutscht und mit dem rechten Knie auf einen Stein gehauen.

Dann kann ich endlich ganz nach unten schauen. Die Wiese rechts ist der letzte steile Abstieg. Meine Schritte sind jetzt noch vorsichtiger und wo es am steilsten ist, steige ich mit seitlichen Schritten hinab.

Als ich unten am Bach stehe, ist es geschafft. Das war ja gar nicht ganz so schwer. Mit ein bisschen Erfahrung, dem richtigen Blick und viel Vorsicht ist es eigentlich kein Problem hier auf der norwegischen Seite zu bleiben. Ich strahle mit der Sonne um die Wette. Das fühlt sich gut an, diesen Teil geschafft zu haben. Bis zur nächsten spitzen Ecke in der Grenze, die ich umlaufen muss, kann ich jetzt erstmal bestimmt eine Woche lang den Wanderwegen folgen.

Hier unten liegt nun das Stordalen vor mir. Ich habe einen tollen Blick durch das Tal.

Und links ragen die steilen Berge auf, über denen der Isvatnet liegt. Dazwischen bahnt sich ein riesiger Wasserfall den Weg nach unten.

Bis zur Hütte ist es nicht mehr weit. Ich gehe einfach weiter querfeldein über die Hügel, statt den Bach zu queren und dem Wanderweg zu folgen. Irgendwann komme ich auf eine Quadspur. Die führt bestimmt auch zur Hütte. Oben hatte ich mir schon überlegt, dass ich dort bleibe und morgen erst weitergehe. Ich habe jetzt schließlich einiges an Zeit eingespart durch den direkten Weg.

Vor der Stordalsstua sitzt eine Frau auf der Bank in der Sonne. Eine Belgierin, die mit ihrem Sohn für 2 Nächte hier ist. Ihr Englisch ist nicht so gut, aber es reicht, dass wir uns ein wenig unterhalten können. Ich setze mich zu ihr und esse was. Dann koche ich mir drinnen einen Tee und fülle meine Trinkflasche damit auf. Die Sonne ist hinter dem Berg verschwunden, dann wird es direkt ziemlich kalt.

Es ist erst kurz nach 15 Uhr und ich habe gerade mal 12 Kilometer hinter mir. Da ist mir doch noch nicht nach Feierabend zumute. Also mache ich mich wieder auf den Weg. Der Pfad ist gut markiert und es ist ein schöner Spaziergang das herbstliche Tal hinab. Mir fällt auf, dass ich jetzt schon länger nicht mehr durch einen Birkenwald gegangen bin.

Irgendwann wird der Pfad zur Traktorspur und noch ein paar Kilometer weiter zur Schotterstraße. In Bones gibt es eine Huskyfarm, eventuell kann ich da schlafen. Oder ich suche mir einfach einen schönen Zeltplatz. Ich halte jedenfalls mal die Augen offen. Inzwischen ist es der Hunger, der mir sagt, dass es für heute reicht und ich mein Lager bald aufschlagen soll.

Ich höre lautes Gebell und Gejaule, das werden die Huskys sein. Es ist aber so schön, dass ich mir das Geld auch gerne spare und im Zelt schlafe. Ich gehe über ein Feld und hoffe, dass ich direkt am Fluss einen schönen Platz finde. Ich kämpfe mich durch ein paar Bäume, finde eine Stelle mit genug Steinen, um trockenen Fußes über den Bach zu kommen und komme tatsächlich bis an den Fluss. Etwas weiter ist hinter dem steinigen Ufer ein schmaler Streifen Wiese. Wieder mal bin ich froh, dass mein Zelt so wenig Platz braucht. Hier ist es echt schön, hier bleibe ich.

Schon beim Aufbauen futtere ich Knäckebrot zur Vorspeise. Dann setze ich mich auf die Steine und koche. Und esse gleich 2 von den Real Turmat Gerichten. Erst ein Curry und dann Nudeln mit Tomatensauce. Essen habe ich für diese Etappe jetzt mehr als genug.

Der Himmel sieht so schön aus mit den orangenen Streifen und lustigen kleinen Wolken. Ich schreibe noch eine ganze Weile, schaue zwischendurch raus und habe die ganze Zeit das Rauschen des Flusses in den Ohren. Er übertönt alle anderen Geräusche.


23,0 km
6:30 h
789 hm
1.121 hm
1.104 m