Für den heutigen Titel hatte ich gleich mehrere Ideen. Gepasst hätte auch Winterwunderland, Verrückte Ideen oder Rekordtag.

Ich bin ausgeschlafen und mein Kopf funktioniert wieder. Natürlich gehe ich nicht über die Lordehytta. Das wäre viel zu waghalsig, vor allem alleine und bei den aktuellen Bedingungen. Es regnet, ist nebelig dort oben, soweit ich sehen kann, ich weiß nicht, wie steil der Weg ist und wie sicher der Schnee. So ist das manchmal, wenn man etwas unbedingt will. Dann muss der Kopf sich erst durchsetzen und verklickern, dass das zu viel Risiko wäre. Also keine Sorge! Ich habe schließlich zuhause allen versprochen, auf mich aufzupassen.

Eigentlich habe ich gestern geplant, heute früh loszugehen. Allerdings liege ich stattdessen ewig gemütlich in meinem Schlafsack und lausche dem Prasseln des Regens auf mein Zelt. Ich schreibe alle Berichte der letzten Tage fertig und packe dann erst zusammen. Als ich auf die Uhr schaue, erschrecke ich etwas. Schon fast 12 Uhr! Naja, das ist ja ein super früher Start geworden… Aber egal, es ist ewig hell, ich kann also einfach bis spät abends laufen. Für einen genauen Weg oder ein Ziel habe ich mich noch nicht entschieden.

Manchmal ist es übrigens ein komisches Gefühl, wenn man so mitten in der Natur schläft, weit und breit nichts drumherum und dann morgens aus dem Zelt klettert. Man hört vielleicht ein paar Vögel und den Wind oder einen Bach, ansonsten ist es einfach still. In alle Richtungen unendliche Weite und man steht da ganz alleine mittendrin. Einsam ist es auf jeden Fall, aber das meine ich positiv. Und ich verspüre eine große Freiheit und einen riesigen Respekt vor der Natur. So richtig beschreiben, kann ich das Gefühl aber nicht. Besonders eben!

Ich fühle mich gut und habe trotz Regen Lust aufs Laufen. Es regnet auch nicht stark. Der Tag startet mit einer einfachen Bachquerung, also mal wieder mit nassen Füßen. Dann folgen zig riesige Schneefelder. Ich gehe immer noch Richtung Westen, es wird immer mehr Schnee. Und es ist super anstrengend, weil der Schnee nass und weich ist. Ständig sinke ich bis zum Knie ein und muss meinen Fuß wieder befreien.

Die erste Möglichkeit zurück zur Tuva Hütte, den unmarkierten Weg, werde ich definitiv nicht nehmen. Der führt nämlich auf der Nordseite der Hügel mehr oder weniger parallel wieder zurück. Nordseite bedeutet wahrscheinlich noch mehr Schneefelder und dann noch ohne Markierungen, dann muss ich ständig den Weg nachschauen und ob ich noch richtig gehe. Da habe ich gerade keine Lust drauf. Also erstmal weiter bis zur Straße.

Zwischen den Schneefeldern sorgt ein bisschen Sumpf für Abwechslung, hier mal ganz komfortabel mit Holzplanken. Ich nutze den guten Empfang und telefoniere fast eine Stunde mit meiner Oma. Sie wandert quasi live mit, ganz schön abenteuerlich, meint sie.

Nach 5 Kilometern bin ich fast an der Straße angekommen. Was heißt, das hier erstmal gefeiert wird. Ich habe nämlich meine Kilometer alle zusammengerechnet und habe genau hier die ersten 500 Kilometer geschafft – juchu! Leider kann man die Zahl im Schnee gar nicht so gut erkennen.

Und irgendwie geht die Zeit so schnell um, Wahnsinn! Es kommt mir gar nicht vor, als wäre ich jetzt schon einen Monat lang unterwegs.

Schon als ich näher komme und die Straße von oben sehe, steht fest, dass ich auch den Schlenker, den der Wanderweg um die Seen herum macht, weglasse und einfach Straße laufe. Auf der anderen Straßenseite beginnt nämlich das Winterwunderland. Am Straßenrand stehen alle paar Meter auf beiden Seiten bestimmt 4 Meter hohe Holzpfähle. Da kann man sich vorstellen, wie es hier im Winter aussieht. Auch jetzt laufe ich noch an Schneefeldern mit 2 Meter hoher Kante vorbei. Die großen Seen sind noch komplett vereist und wo der Wanderweg herführt, sehe ich nichts als weiß.

Lustig ist, dass die Straße die Landschaft zu teilen scheint. Der Læegreidvatnet auf der rechten Seite ist fast schnee- und eisfrei.

Der Ørteren auf der linken Seite ist noch total vereist. Und das mitten im Juni. So ist das hier im Norden. Und dieses Jahr gab es nicht mal so besonders viel Schnee im Vergleich zu anderen Jahren.

Ich komme zu dem Abzweig des markierten Wanderweges Richtung Tuva Hütte und mache kurz Pause an dem Eissee. Wenn ich weiter Straße gehe, komme ich irgendwann in Ustaoset an einem Supermarkt vorbei. Der einzige hier in der Nähe. Ich habe zwar genug Essen dabei, aber das Verlangen nach irgendetwas anderem, einer Belohnung für die 500 Kilometer, ist heute echt groß. Also lasse ich auch den Weg links liegen und folge der Straße. Der Verkehr ist zum Glück nicht ganz so schlimm.

Kurz vor Haugastøl komme ich an einem Café vorbei. Draußen steht aber ein Schild „Stengt“. Natürlich, im Moment hat auch nichts auf, es ist noch keine Saison. In Haugastøl komme ich aber mal an einem Mülleimer vorbei und werde den Müll, den ich jetzt schon tagelang mit mir herumschleppe, los.

Hier habe ich auch einen Ausblick auf die Berge, wo die Lordehytta liegt. Da oben liegt noch ziemlich viel Schnee.

Jetzt bin ich aus der Hardangervidda raus. Wenn ich das auf der Karte richtig gesehen habe, ist das die einzige Straße durch die Hardangervidda. Und die führt auch nur ein Stück durch den Norden der Hochebene. Die Straße wird wohl im Winter manchmal komplett gesperrt, ich komme an einigen Schranken vorbei. Und an einer Schranke hängt ein Schild, dass nur Kolonnefahren erlaubt ist. Das waren super schöne Tage in der Hardangervidda und ich bin froh, dass wir gerade hier so ein Glück mit dem Wetter hatten. Der nächste Nationalpark folgt aber direkt, nämlich der Hallingskarvet Nationalpark.

Ich mache nochmal eine kurze Pause, um die Wege zu prüfen. Weiter Straße oder Wanderwege oberhalb? Achso, die Supermärkte haben ja in den kleinen Orten meistens gar nicht so lange auf. Schnell nochmal nachgucken – bis 18 Uhr. Wenn ich mich spute… Nein, das ist unrealistisch. Es sind noch 12 Kilometer und es ist schon nach 16 Uhr. Und jetzt? Dann doch ganz entspannt die Wanderwege oberhalb der Straße. Wobei… Markus ist in Geilo angekommen und hat mir – richtig gemein – vorhin ein Bild vom Pizzabuffet geschickt. Das Restaurant hat bis 22 Uhr auf, genauso wie die Supermärkte. Da nimmt eine verrückte Idee Gestalt an in meinem Kopf. Wenn ich einfach bis Geilo Straße laufe, dann komme ich schnell voran. Ich rechne aus, dass ich vor 21 Uhr da sein könnte, Pizza essen und noch ein Stück wieder aus dem Ort raus, um den erstbesten Zeltplatz zu suchen. Der Haken daran? Ich habe jetzt schon 17 Kilometer hinter mir und dann sind es nochmal 23 Kilometer. Aber was soll’s – ich mag kleine Herausforderungen. Ich bin schließlich vor der Wanderung noch einen Marathon gelaufen, da werde ich die Distanz auch wandernd und mit Rucksack schaffen. Also los!

Ich trage so viel Glücksgefühl mit mir herum heute, dass mir der ganze Asphalt nichts ausmacht. Ich stecke mir meine Ohrstöpsel in die Ohren, telefoniere noch ein bisschen und höre Gute-Laune-Musik. Ich bedanke mich bei den Autofahrern, die mir Platz machen und viele winken zurück. Wenn ich keine Lust mehr habe, kann ich mir ja immer noch vorher schon einen Zeltplatz suchen. Das beste allerdings ist, dass Markus mir das zweite Bett in seiner Hütte anbietet, sollte ich wirklich ankommen. Er macht morgen einen Pausentag in Geilo und hat auf dem Campingplatz eine Hütte gemietet. Er fragt schon mal nach beim Besitzer und wir müssten auch gar nichts extra bezahlen. Na, wenn Pizza und ein Bett mal nicht Motivation genug sind. Die Zeit geht auch recht schnell um, obwohl der Weg jetzt nicht so spannend ist. Das einzig blöde sind die LKWs, die manchmal doch dicht an mir vorbeifahren. Ich fühle mich nach ein paar Stunden total staubig und schmutzig. Wahrscheinlich von den Abgasen und dem Straßenstaub. So klebrig fühle ich mich nach 2 Wochen in den Bergen ohne Dusche nicht. Vielleicht habe ich ja Glück und kann auf dem Campingplatz noch duschen, bevor ich ins Bett falle.

Einige Stunden später…

Ab dem Ortseingang von Geilo gibt es endlich einen Fuß- und Radweg neben der Straße. Wobei immer weniger Verkehr war, je später es wurde. Meine Füße haben mir keine Pause gegönnt und sind einfach im Automatik-Modus immer weiter gelaufen. Ich fühle mich aber noch erstaunlich fit, da bin ich selbst überrascht. Ich habe nur seit 5 Kilometern schon kein Wasser mehr und einen richtig trockenen Mund.

Um kurz vor 9 stehe ich tatsächlich bei Pepe’s Pizza. Wow, geschafft! Nur um zu hören, dass das Restaurant in 3 Minuten schließe. Echt jetzt? Aber ich könne noch eine Pizza zum Mitnehmen bestellen. Na klar doch! Und während ich warte, bekomme ich auch noch was zu trinken. Mit meiner Pizza setze ich mich dann einfach draußen auf eine Bank. Das ist mir so egal. Ich bin glücklich!

Nach dem Essen mache ich mich auf zu einem gemütlichen Verdauungsspaziergang die letzten 2 Kilometer bis zum Campingplatz. Der Weg morgen beginnt direkt gegenüber, das passt. Meine Eltern gratulieren mir noch per Telefon zu den 500 Kilometern und beim Telefonieren fliegen auch die letzten beiden Kilometer nur so dahin.

Markus winkt mir schon aus dem Fenster, ich habe es geschafft! Es ist kurz nach 22 Uhr und ich habe, glaube ich, einen neuen Streckenrekord für mich aufgestellt. Auf der Deutschland-Wanderung hatte ich mal eine lange Distanz mit knapp 41 Kilometern, dann der Marathon vor ein paar Wochen, aber jetzt bin ich überall noch drüber. Und ich bin stolz drauf 🙂 Vor allem, weil ich gar nicht völlig kaputt bin.

Die Duschen sind kostenlos, perfekt. Allerdings quatschen wir dann doch noch bis Mitternacht bevor ich ins Bett falle. Jetzt sind wir ja schließlich schon 2 Tage verschiedene Wege gegangen, da gibt es eine Menge Erlebnisse zu berichten.

Ich bin absolut nicht böse drum, dass ich jetzt einen riesigen Umweg gegangen bin. Ich freue mich eher darüber, dass ich noch kurz im Winterwunderland mitten im Sommer vorbeischauen konnte. Das gehört schließlich dazu zu diesem Land. Also alles richtig gemacht! Und meinen Umweg habe ich heute ja auch direkt wieder rausgelaufen, so dass ich immer noch, wie abgesprochen, am 10. in Storestølen ankomme.


42,4 km
7:45 h
349 hm
780 hm
1.262 m