Ich lag die halbe Nacht wach. Der Wind ist so stark, dass die ganze Hütte bei manchen Böen bebt. Vielleicht fühlt es sich aber auch nur so an, weil ich direkt am Fenster schlafe. Morgens hört es sich dann auch noch an, als hätte das Ofenrohr den Sturm nicht überstanden. Ständig klappert das Metall. Ich warte ungeduldig, dass es endlich 6 Uhr ist. Auf die Uhrzeit haben wir den Wecker gestellt, wir wollten ja früh losgehen. Und der Wind sollte eigentlich morgens nachlassen. Dem ist aber nicht so. Später schaue ich nach, dass 16 Meter pro Sekunde einer Windstärke von ungefähr 60 Kilometern pro Stunde entspricht und als „steifer Wind“ bezeichnet wird. So stand es im Wetterbericht. Wie stark der Wind wirklich war, kann ich absolut nicht einschätzen.

Ich habe irgendwie keine Ruhe mehr länger drinnen zu sitzen und möchte am liebsten sofort losgehen. Aber der Wind hat gedreht und kommt jetzt direkt von vorne, wenn wir weitergehen. Das wird richtig ungemütlich. Also warten wir noch ein bisschen. Im Gegensatz zu gestern morgen, wäre heute vielleicht noch mehr der Tag, wo man sich entscheiden sollte, erstmal in der Nothütte zu bleiben. Aber um kurz nach 7 Uhr beschließen wir, unser Glück zu versuchen. Es geht hauptsächlich bergab, vielleicht ist der Wind weiter unten nicht so schlimm.

Ein Stück hinter der Hütte müssen wir den ersten Fluss queren. Ich überlege kurz, ob ich auch meine Schuhe ausziehe, damit sie noch trocken bleiben und meine Füße nicht so eisig werden, aber entscheide mich dagegen. Es hätte auch nichts gebracht, da wir die nächsten Kilometer sowieso durch nasse und unter Wasser stehende Wiesen laufen. Es geht über den Bergrücken hinter mir und dann eigentlich nur noch hinab Richtung Tal.

Die Landschaft ist ganz schön, jedenfalls soweit man etwas sehen kann im Nebel. Aber mit in Ruhe umschauen und genießen ist das heute eh nichts. Ich schaue hauptsächlich auf den Boden, um tieferen Pfützen auszuweichen und nicht auszurutschen. Heute heißt es, Kopf nach unten und durchkämpfen.

Wir kommen an einem Wegweiser zum Auronasa vorbei, sehen können wir den Berg aber natürlich nicht. Hildegun hat gemeint, dass es ein heiliger Berg sei. Tatsächlich ist es ein alter samischer Opferplatz. Und der Berg dient auch als Motiv für das Logo der DNT Sektion Rana. Er hat eine ganz außergewöhnliche Form.

Unterhalb des Nordre Andfjelltjønna müssen wir nochmal einen breiten, reißenden Bach überqueren. Hier gehen wir etwas stromaufwärts, um eine geeignete Stelle zu finden.

Es ist so eisig kalt und der Wind hat nicht wirklich nachgelassen. Ich wechsele in meine dicken Handschuhe, damit ich wieder Gefühl in den Fingern bekomme. Dabei schaue ich auch kurz auf die Karte. Ich hatte ganz vergessen, dass wir gleich auf eine Schotterstraße kommen. Dann ist es ja schon fast geschafft, jippieh. Auf der Straße kann man zumindest immer etwas entspannter gehen.

Wir müssen nur vorher noch über den Fluss Randalselva unten im Sør-Randalen. Laut Karte führt der Weg direkt am Damm vorbei. Oben stehen aber große Warnschilder „STOPP“. Und irgendetwas über unkontrollierte Explosionen steht da, soweit wir es verstehen. Da halten wir uns lieber fern und folgen den roten Markierungen. Es geht durch Gestrüpp und Wald und zum Glück kommen wir irgendwann an einer Brücke raus.

Jetzt durch den Wald wieder nach oben und nach einer gefühlten Ewigkeit und noch mehr Matsch stehen wir auf dem Fahrweg. Kurze Pause, um Nüsse aus dem Rucksack zu holen und dann geht’s direkt weiter. Für eine längere Pause ist es zu ungemütlich und uns ist zu kalt.

Nach etwa 4 Kilometern auf dem Fahrweg, biegen wir nochmal ab auf einen schmalen Pfad. Wir könnten zwar auch der Straße weiter folgen, würden aber dann unten im Tal auf die E6 kommen und müssten einen Umweg gehen. Dann lieber die letzten 3 Kilometer auf direktem Weg durchschlagen. Wir haben es ja fast geschafft.

Durch das offene Gelände ist der Wind wieder stärker. Einige Böen lassen uns Ausfallschritte zur Seite machen. Und bei einer besonders starken Böe falle ich neben mir ins Gras auf die Knie. Hier kommt der Wind die ganze Zeit von links, wie man an den Bäumen sieht.

Aber es ist nicht mehr weit. Da unten sieht man schon die ersten Häuser im Tal. Der Regenbogen ist quasi unser Wegweiser. Zwischendurch ist er noch viel kräftiger. Ich habe noch nie so viele Regenbögen gesehen wie hier. Das waren echt eine Menge in letzter Zeit.

Kurz vor dem Ziel müssen wir noch einen steilen Hang durch den Wald hinab. Wir verfehlen erst den Weg und müssen ein bisschen suchen. Über eine Brücke geht es über den Fluss Gubbeltåga, über die Straße und dann haben wir es geschafft. Um kurz nach 13 Uhr kommen wir an der Bolnastua an.

Die Hütte liegt zwar an der Straße, aber so weit zurück und hinter Bäumen, dass man den Verkehr nicht so laut hört. In der Haupthütte treffen wir einen Norweger, der auch zum Nordkap unterwegs ist. Da er Schmerzen beim Wandern hatte, hat er sich für eine Weile ein Fahrrad geliehen. In der Nebenhütte sei noch ein deutsches Pärchen. Das sind dann bestimmt Heike und Christoph. Sind sie tatsächlich und wir ziehen zu ihnen, da noch ein Schlafraum mit Etagenbett frei ist. In der Haupthütte gibt es nur noch einzelne freie Betten.

Es ist schon schön warm. Erstmal trockene Sachen anziehen und essen. Ein bisschen die Füße hochlegen und aufwärmen. Ich bin total müde und könnte eigentlich auch direkt im Bett verschwinden. Das Gesprächsthema ist gerade mal wieder Essen. Heike und Christoph schauen inzwischen auch als erstes in die Schränke in den Hütten, ob irgendjemand was dagelassen hat. Hier wäre aber nichts gewesen. Nur eine vollgepackte Tüte für eine andere NPLerin. Da gehen wir natürlich nicht dran. Wir fangen an herumzuspaßen, dass das Polarzirkel-Zentrum ein Stück weiter doch mit einem Lieferdienst zur Bolnastua bestimmt gut verdienen könnte an hungrigen Wanderern. Es gibt nämlich dort ein kleines Café mit Speiseangebot. Oder wir laufen hin und holen uns was zu essen. Nach einer Weile fängt Markus ernsthaft an zu überlegen… So weit ist es jetzt nicht, 9 oder 10 Kilometer pro Weg.

Ich schaue mir erstmal Wetter und Weg für morgen an. Das sieht nicht gut aus. Morgen wäre der Tag, auf den Markus und ich uns schon eine ganze Weile freuen. Wir werden den Polarkreis überqueren, was schon ein großer Meilenstein ist. Und wir haben uns beide für diesen einen Tag schönes Wetter gewünscht. Es soll aber weiter nur regnen. Den einzigen Lichtblick gibt es übermorgen morgens zwischen 4 und 9 Uhr. Da soll es trocken sein und die Sonne scheinen. Darauf richte ich jetzt meinen Plan aus, ich will einfach nicht im Regen und Nebel über den Polarkreis. Dabei entsteht folgendes: Morgen geht es nur 10 Kilometer weiter bis zur Raudfjelldalskoia, einer kleinen Nothütte direkt am Polarkreis. Dort schlafen wir, stehen am nächsten Morgen früh auf und tadaa – können den Polarkreis bei Sonnenschein überschreiten. Und dann weitergehen Richtung Saltfjellstua. Und da so morgen nur ein kurzer Tag ist und wir theoretisch bis mittags schlafen können, könnte man ja jetzt auch noch einen Ausflug machen, sich unter die Touristen mischen und einen Burger essen.

Markus und ich sind uns schnell einig, dass der Plan gut passt. Und wenn wir jetzt gehen, dann werde ich auch wieder wach. Heike und Christoph schauen uns groß an, als wir uns wieder anziehen. Vom Herumalbern werden wir halt nicht satt 😉 Wir gehen ohne Gepäck, fliegen also quasi und brauchen bestimmt nicht länger als 2 Stunden pro Strecke. Im Moment ist es zwar trocken, aber die Regenjacke ziehe ich trotzdem über. Und Mütze und Buff kommen auch mit für später. Jetzt nur nicht das Portemonnaie vergessen.

Und los geht’s. Der Startschuss fällt heute um 16:15 Uhr mitten auf der E6.

Nach knapp 2 Kilometern können wir auf eine Traktorspur wechseln, die etwas oberhalb und auf der anderen Flussseite parallel zur Straße verläuft. Der Weg ist trocken, fest und eignet sich perfekt zum schnellen Gehen. Wir nutzen die Zeit beide zum Telefonieren. Es macht Spaß, so leicht unterwegs zu sein, ohne den Rucksack. Auch wenn er mich sonst nicht stört.

Da hinten an der Straße kommt schon unser Ziel in Sicht. Das Gebäude mit der flachen Kuppel.

Links von uns liegt noch eine ganze Menge Schnee auf den Bergen. Na, wir sind ja auch fast am Polarkreis. Da passt das doch.

Als wir näher dran sind, wundere ich mich über die ganzen Steintürme mit Weltkugel aus Stahl darauf und Kennzeichnungen für den Polarkreis. Ich hatte mir doch vorher den genauen Breitengrad auf meiner Karte markiert und der ist noch ein ganzes Stück weiter. Das muss ich nochmal nachschauen und mache das auch gleich unterwegs. Nicht, dass wir einfach rüberlaufen und es gar nicht wissen. Ah, mit Änderung der Neigung der Erdachse verschieben sich auch die Polarkreise. Das heißt, das Polarsirkelsenteret und auch die ganzen Denkmäler wurden 1990 genau auf dem Polarkreis gebaut. Nur inzwischen liegt dieser mehr als 1,5 Kilometer weiter nördlich, wenn ich das richtig nachgemessen habe auf meiner Karte. Na gut, das wusste ich nicht. Also keine Gefahr, die magische Linie heute schon zu überqueren.

Es geht einen Pfad runter, über die Bahngleise und eine Brücke. Dann stehen wir zwischen einigen Wohnmobilen auf dem großen Parkplatz. Wir haben es sogar in 1:45 Stunde geschafft. Perfekte Essenszeit, es ist 18 Uhr. Also gehen wir gleich mal rein und stürmen das kleine Schnell-Restaurant. Wir sind die einzigen, die so dick eingepackt und klitschnass ankommen.

Nachdem wir uns mit einem Burger und Pommes gestärkt haben, schauen wir uns in Ruhe um. Es gibt unter anderem einen großen Souvenirladen. Draußen stehen mehrere Steinsäulen etwas verstreut mit unterschiedlichen Jahreszahlen. Hier verlief 1990 der Polarsirkelen.

Und anscheinend müssen alle, die hier waren, das mit einem eigenen kleinen Steinmännchen belegen. Wir haben allerdings vorher online schon die Bitte gesehen, keine Steinmännchen mehr zu bauen.

Schnell ein paar Fotos machen und dann nochmal rein zum Aufwärmen. Das kann ja ein Rückweg werden. Es ist inzwischen fast 20 Uhr und noch ungemütlicher und kälter geworden draußen. Das Restaurant schließt schon, wir bekommen aber jeder noch eine Waffel und was warmes zu trinken. Außerdem quatschen wir mit dem Koch, der selber 2016 Norge på langs gewandert ist. Er schenkt uns jedem eine kleine Tüte getrocknetes Rentierfleisch als Snack für unterwegs. Mal was anderes.

Dann machen wir uns doch mal auf den Rückweg. Wir entscheiden uns für die Straße, um noch einen Kilometer zu sparen. Verkehr war vorhin schon nicht viel und es ist genug Platz am Straßenrand. Hätte ich mal meine Regenhose übergezogen, die hängt noch am Kamin. Bei meinen Handschuhen. Aber Markus überlässt mir seine dicken Wollhandschuhe, die er sich gerade gekauft hat für weiter im Norden. So marschieren wir in schnellem Tempo die Straße entlang, mit Gegenwind und Regen, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Wir schaffen es in 1,5 Stunden zurück zur Hütte. Ich bin so durchgefroren. So kalt war mir selbst heute morgen nicht. Um kurz vor 22 Uhr sind wir zurück und machen leise den Kamin nochmal an. Ich sitze eine Weile direkt vor dem Feuer, bevor ich ins Bett falle. Aber das war ein schöner Ausflug. Ein bisschen verrückt, aber das muss man manchmal eben sein!


38,6 km
8:25 h
723 hm
1.200 hm
1.018 m