Um halb 5 klingelt mein Wecker. Bei der Wettervorhersage für heute möchte ich mittags möglichst schon den ganzen Anstieg geschafft haben. Ab 14 Uhr gibt es eine Gewitterwarnung. Ich schleiche mich also leise raus, noch mit Stirnlampe bewaffnet. Inzwischen geht die Sonne erst um 5:45 Uhr auf. Da aber letzte Nacht Vollmond war, sehe ich auch so genug. Um 5 Uhr gehe ich los. Über die Straße bis kurz vor Pinegg. Links von mir rauscht die Brandenberger Ache, vor mir verschwindet der Mond langsam hinter den Bergen.

Hinter mir geht die Sonne auf.

Bis nach Steinberg am Rofan gehe ich weiter über Schotter- und später Asphaltstraße. Es geht die ganze Zeit leicht hinauf, in den Ort dann wieder runter. Der Weg ist zwar nicht spannend, aber gut zum Warmlaufen. Ich weiß ja, dass es heute noch schöner wird. Und ich kann schon einen Blick auf mein Ziel werfen, heute geht es nämlich hoch in die Brandenberger Alpen bzw. ins Rofan-Gebirge.

Steinberg ist eigentlich als Kontrollstelle des Nordalpenwegs markiert, was heißt, dass man sich einen Stempel holen soll. Ich sehe nur weit und breit kein Gasthaus, Geschäft oder Ähnliches. Aber es ist ein sehr idyllisches Örtchen. Mit kleinen Siedlungen verstreut zwischen den Wiesen.

Es geht über die Straße wieder ganz schön weit hinab, ins tief eingeschnittene Tal hinunter. Über die Steinberger Ache und dann an den Anstieg. Ein paar Serpentinen kann ich durch den Wald über einen steilen Steig abkürzen. Dann folge ich ohne große Höhenunterschiede noch ein Stück dem Schotterweg, vorbei an ein paar Höfen, bis es in den Wald geht und wieder steiler wird. Hier wird der Weg richtig schön.

Heute verläuft mein Weg genauso wie der Adlerweg. Tirols bekanntester Weitwanderweg, der das Bundesland in insgesamt 33 Etappen komplett durchquert. Mich überholt ein Belgier, der diesen Weg läuft. Im Vorbeigehen fragt er, wohin ich gehe und bleibt dann doch stehen, um noch ein bisschen zu quatschen. Als er ein bisschen weiter oben Pause macht, gehe ich an ihm vorbei und wenig später überholt er mich wieder. Gut, mal wieder ein bisschen Englisch zu reden. Wir verabschieden uns bis zum Abend, er schläft nämlich auch in der Erfurter Hütte.

Durch Latschen geht es in Kehren das Schauertalkar hinauf. Der Ort ist jetzt schon wieder ganz schön weit weg.

Hinter dem Sattel da oben erwartet mich der Zireiner See. Ich bin schon ganz gespannt auf den neuen Ausblick, wenn ich oben bin.

Wie gut, dass ich zwischendurch an kleinen Bächen mein Wasser immer wieder auffüllen kann. Und auf den See freue ich mich auch schon als Abkühlung. Er wurde mir jetzt schon von mehreren Leuten unterwegs zum Baden empfohlen. Mal sehen, wie voll es dort ist.

Als ich oben bin, muss ich allerdings erst noch einen kleinen Bogen gehen, bevor ich den See sehe. Dann aber – endlich. Darin spiegelt sich die Rofanspitze und am Rand liegen ein paar Kühe in der Sonne.

Jetzt habe ich den größten Anstieg schon hinter mir und ich liege super in der Zeit. 23 Kilometer und 1300 Höhenmeter hoch sind geschafft. Fehlt nur noch ein bisschen was. Da wäre ein kurzes Bad jetzt genau richtig. Ich suche mir eine Bank direkt zwischen See und Kühen. Allerdings ist es hier oben so windig, dass mir schon ganz kalt ist, vor allem so nass geschwitzt. Da habe ich jetzt keine Lust, mich auszuziehen und in das noch kältere Wasser zu springen. Eine kurze Pause gönne ich mir trotzdem. Allerdings nicht zu lange, ich muss nämlich immer noch ein Stückchen höher und die Wolken werden schon dichter.

Also gehe ich bald weiter Richtung Marchgatterl. Jetzt kommt der allerschönste Teil des Weges heute. Felsgrau löst das Wiesengrün immer mehr ab und es geht zwischen großen Felsblöcken hindurch. Zwischen Rofanturm und Roßköpfl folge ich dem Schafsteig hinauf zum Schafsteigsattel.

Beim Blick zurück ist der See schon fast hinter den Felsen verschwunden. Vor mir ragt die Schokoladentafel auf. Die Felsen heißen tatsächlich so. Allerdings sind sie in der Sonne schon ein bisschen geschmolzen, so gebogen.

Mit ein bisschen einfacher Kletterei geht es hinauf. Fast oben angekommen, fängt es dann an zu regnen. Gut, dass ich die steilen Stellen schon hinter mir habe, auf rutschigen Felsen wäre das nicht so super.

Oben auf dem Sattel angekommen, führt der Weg noch über den Grasrücken hoch zur Rofanspitze. Auf den Gipfel habe ich mich schon den ganzen Tag gefreut. Es ist bestimmt nur noch eine Viertelstunde, gar nicht mehr weit. Allerdings sehe ich inzwischen nicht mehr viel.

Ich stehe mittendrin in der Regenwolke. Als ich gerade meine Regenjacke übergezogen habe, fängt es auch noch an zu donnern. Dann hat sich das mit dem Gipfel wohl leider erledigt, nichts wie runter hier.

Ich gehe so schnell ich kann, ohne auf den jetzt nassen Felsen auszurutschen. Vor mir sehen ich noch ein paar Menschen, habe sie aber schnell überholt. Sie sind bestimmt mit der Seilbahn hochgekommen und sehen nicht sehr wandererfahren aus. Sie sind in Stoffschuhen und ohne Regenjacken unterwegs.

Irgendwie bin ich gerade ein bisschen emotional. Ich könnte heulen. Ich bin traurig, dass ich nicht auf den Gipfel konnte und gleichzeitig habe ich Angst, dass das Gewitter näher kommt. Der Wind kommt von vorne, treibt also die dunklen Wolken in meine Richtung. Ich bin mit meinen Eltern zusammen auf einer Hüttentour schon mal in einem plötzlichen Gewitter gelandet. Wir waren mitten auf einem Grat zwischen zwei Gipfeln und haben recht lange bei Hagel, Sturmböen und dem Gewitter direkt über uns in einer Grasmulde gekauert. Seitdem habe ich ziemliche Angst, wenn es anfängt zu gewittern in den Bergen und ich so exponiert bin. Da brauche ich keine Wiederholung von.

Es donnert und grummelt die ganze Zeit. Als es blitzt, zähle ich automatisch die Sekunden bis zum nächsten Donner. Es sind noch mehr als 10 Sekunden, das ist gut. Zum Glück bleibt das auch der einzige Blitz.

Irgendwann wird es wieder ein bisschen heller vor mir. Das Donnern hört man zwar noch, aber das Gewitter ist anscheinend doch ein Stück weiter vorbeigezogen. Glück gehabt!

Dann sehe ich schon die Gebäude der Bergstation der Rofan-Seilbahn, Mauritzalm und Erfurter Hütte da hinten. Durch Latschen und über die Wiese geht es weiter hinab zum Ziel. Heute versperren zur Abwechslung mal ein paar Pferde statt Kühe meinen Weg.

An der Hütte angekommen, hat es aufgehört zu regnen. Von der Terrasse schaut man runter auf den Achensee.

Geschafft! Hier bleibe ich – Erfurter Hütte auf 1834 Metern. Wenn man so früh losgeht, schafft man auch solche langen Etappen ganz entspannt und ist zum Kuchen oder spätestens zum Abendessen an der Hütte. Laut Wanderführer sollte die Gehzeit über 10 Stunden sein. Gestern am Kaiserhaus wurde mir auch gesagt, dass es eine 10-Stunden-Tour sei und dass ich es eventuell in 9 Stunden schaffe. Und da das Donnern mich zum Schluss angetrieben hat, habe ich sogar nur 8,5 Stunden gebraucht.

Ich beziehe mein Bett im Lager, was unterteilt ist in abgetrennte Bereiche mit jeweils 7 Schlafplätzen. Ich schlafe im Basislager 1.

Ich mache mich frisch, ziehe mich um und gehe runter in die Stube. Als ich den Raum betrete und mich umschaue, werde ich herzlich und lachend begrüßt mit „It’s her, it’s the same person“ (Das ist sie, dieselbe Person). Dort am Tisch sitzt der Belgier, den ich heute unterwegs schon getroffen habe, mit noch 2 anderen. Das Mädel war letzte Woche am selben Tag wie ich im Riemannhaus und hat mitbekommen, wie ich anderen erzählt habe, dass ich den kompletten Nordalpenweg gehe. Nun haben sie und der Belgier gerätselt, ob ich wohl dieselbe Person bin, die er heute getroffen hat. Ich soll mich zu ihnen setzen und wir verbringen einen richtig lustigen Abend zusammen. Wir unterhalten uns größtenteils auf Englisch, bringen dem Belgier aber so wichtige Wörter wie „Gipfelkreuz“ bei 😉 Mit am Tisch sitzt noch Maximilian Thorwirth, deutscher Leichtathlet, der leider gerade so an der Olympia-Qualifikation für 5000 Meter vorbei gerutscht ist. Spannend, was er so zu erzählen hat aus dem Leben eines Leistungssportlers.

Wir essen zusammen und schauen uns später auf der Terrasse noch den Sonnenuntergang über dem Achensee an.

Dann geht es schlafen. Das Mädel und ich überlegen noch, ob wir morgen früh zum Sonnenaufgang auf den Hochiss steigen, wollen aber erstmal schauen, ob es überhaupt klar ist. Sonst lohnt sich das ja nicht. Und dann freue ich mich, morgen meine Eltern zu treffen.


29,6 km
8:30 h
1732 hm
747 hm
2177 m