Heute geht es endlich weiter. Ich fühle mich gut und bin bereit für neue Abenteuer. Um kurz vor 9 Uhr ist alles gepackt, ich schultere meinen schweren Rucksack und gehe los. Zum Warmlaufen gehen die ersten 8 Kilometer noch an der Straße entlang. Aus dem Ort raus, ein kleines Stück an der E6 und dann auf einer Schotterstraße, die parallel verläuft. Über den Fluss Tørrfjordelva und an ein paar Höfen vorbei bis Steinbakk. Mit Blick auf steile Felswände.

Der eigentliche Wanderweg zur Ragohytta beginnt weiter nördlich. Dahin müsste man der Straße weiter folgen und durch einen langen Tunnel durch. Das mag ich gar nicht. Also folge ich lieber einer Traktorspur hoch ins Tverrfjellet und gehe dann querfeldein über den Berg bis ich auf den Wanderweg stoße. Die nächsten Tage orientiere ich mich hauptsächlich an der Route von Susanne und Anders. Auch diese Abkürzung habe ich mir bei ihnen abgeschaut.

Die Traktorspur führt direkt steil hinauf. Das ist ganz schön anstrengend für die Beine mit meinem schweren Rucksack. Der war die letzten Tage so leicht, das bin ich gar nicht mehr gewohnt. Ich krieche mit kleinen Schritten und vielen Trinkpausen langsam den Berg hoch.

Mir kommt ein Mann auf einem Quad entgegen und kurz darauf ein Spaziergänger mit Hund. Er spricht kein Englisch, zeigt aber fröhlich nach oben, als ich sage, dass ich zur Ragohytta möchte. Er wünscht mir „God tur“. Bald werden die Bäume weniger und ich kann sehen, wo ich hergekommen bin.

Die Traktorspur ist immer mehr zugewachsen, je höher ich komme. Sie führt aber bis hinauf zum Steinbakkfjellet. Bis die Sumpf-Wiesen anfangen. Ich mache eine kurze Pause, stärke mich mit ein paar Nüssen und stelle meinen Kompass ein. Jetzt geht es ohne Weg weiter. Zwischendurch sind zwar noch Reifenspuren auf der nassen Wiese zu erkennen, aber in der Fahrspur ist es mir zu tief matschig. Da suche ich mir lieber meinen eigenen Weg über Grasbüschel.

Wald und nasse und matschige Wiesen wechseln sich ab. Es ist ziemlich hügelig und geht ständig ein Stück hoch und wieder runter. Besonders blöd sind die Felsblöcke im Wald, die halb unter Moos und Farn begraben sind. Da muss ich gut aufpassen, dass ich nicht abrutsche.

Nachdem ich den höchsten Punkt erreicht habe, geht es unter der Hochspannungsleitung her. Nochmal durch den Sumpf, bevor es felsiger wird. Hier habe ich eine schöne Aussicht. Obwohl es ziemlich kalt ist mit dem Wind, mache ich eine kleine Pause. Suche mir einen schönen Felsen und betrachte die Landschaft. Gegenüber dürfte das Gråfjellet sein und der große Wasserfall links der Faulvassforsen.

Jetzt ist es nicht mehr weit, bis ich auf den Wanderweg stoße. Der dürfte schon irgendwo ein Stück unter mir hergehen. Ich gehe über langgezogene Felsbuckel und muss ein paar Mal wieder ein paar Schritte zurück, weil die Kante zu hoch ist. Oberhalb des namenlosen Sees auf 472 Meter Höhe komme ich wieder in den Wald und muss einen Bach queren. Da hatte ich mir etwas Gedanken gemacht, aber im Endeffekt sind es 3 Bäche, die mit einem großen Schritt gequert sind. Kein Problem.

Ich bin ganz auf den Boden konzentriert, da es recht steil ist. Plötzlich höre ich vor mir Geräusche und sehe eine Bewegung. Zwei Elche! Sie sind vielleicht noch 10 Meter von mir entfernt. Instinktiv ducke ich mich und versuche mich zu verstecken. Ich hocke neben einem Felsen, der etwas höher ist als ich. Allerdings nicht dahinter, sondern genau im Blickfeld der Elche. Aber ich will mich nicht mehr bewegen. Ich hocke ganz still da und atme ruhig, in der Hoffnung, dass sie mich nicht bemerken. Der vordere Elch hat noch kein Geweih und ist auch nicht ausgewachsen. Der hintere ist noch ziemlich jung und erst etwas größer als ein Rentier. Sie bleiben stehen, wirken aber nicht so, als hätten sie mich gesehen. Dann kommen sie direkt auf mich zu. Halb erwarte ich, gleich von einer Elch-Schnauze angestupst zu werden und bekomme Angst. Ich habe mal gelesen, dass man vor Elchen im Zickzack weglaufen soll, da sie dann über ihre eigenen Beine stolpern würden. Was für ein blöder Tipp! Unmöglich in diesem Gelände. Die Elche laufen grunzend nicht einmal 2 Meter neben mir hier und verschwinden hinter mir im Wald. Ich hocke noch eine ganze Weile da und traue mich nicht, mich zu bewegen. Erst als ich länger kein Knacken mehr höre, hebe ich vorsichtig den Kopf und schaue mich um. Niemand mehr da. Puh! Ich stehe auf und meine Beine zittern ein wenig. Was wohl passiert wäre, wenn die Elche mich doch entdeckt hätten? Gerade wenn Jungtiere dabei sind, muss man ja immer besonders vorsichtig sein, eigentlich bei allen Tieren.

Okay, weiter geht’s. Ich drehe mich noch ein paar Mal um, aber sehe keine Tiere mehr. Dann wieder auf den Boden konzentrieren. Vor mir liegt ein breites Blockfeld, die Steine mit Moos überzogen und Farn in den Zwischenräumen. Es gibt keinen blöderen Untergrund, finde ich. Man sieht einfach nicht, wo man hintreten kann. Dahinter geht es weiter hinab. Etwas unter mir kann ich eine Markierung am Baum erkennen. Da ist der Wanderweg. Es ist nur gar nicht so leicht, da runter zu kommen. Es ist zu steil und mich trennt eine bestimmt 3 Meter hohe Felskante vom Weg. Ein Stückchen weiter kann ich zwischen Bäumen über einen Streifen rutschige Wiese hinabklettern. Das hat doch schonmal gut geklappt und ich habe mir Straße und Tunnel gespart.

Die Aussicht hier ist wahnsinnig schön. Ich bleibe erstmal stehen und kann gar nicht genug bekommen. Das ist der Blick nach links ins Storskogdalen.

Und der Blick nach rechts. In die Richtung geht’s weiter. Rechts oberhalb der steilen Felsen entlang.

Die Freude über den Wanderweg hält sich allerdings in Grenzen. Schneller oder besser komme ich hier auch nicht vorwärts. Der Weg ist so matschig, dass ich mir häufig ein paar schmale Tritte am Rand suchen muss oder gleich nebendran über Bäume und Felsen klettere. Das ist aber auch nicht überall möglich, dann suche ich mir Stellen, wo Steine aus der braunen, weichen Erde herausschauen. Einmal muss ich meinen Fuß mit einem lauten Schmatzen wieder herausziehen aus einem Matschloch.

Ein Stückchen weiter habe ich einen noch besseren Blick ins Tal, wo der Fluss sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelt. Das sieht ja aus wie im Urwald da unten. So schön!

Jetzt muss ich immer wieder die Hände zur Hilfe nehmen. Es geht über große Felsblöcke und glatte Felsplatten. An einer hohen Kante ist sogar eine Leiter angebracht, da ist ja nett und ganz untypisch für norwegische Wanderwege.

Hier nochmal der Blick zurück.

Noch über ein paar Felsen und dann sehe ich ihn das erste Mal – den Litlverivassforsen. Den gigantischen Wasserfall, der wohl das beliebteste Fotomotiv im Rago Nationalpark ist. Ich muss laut lachen, das ist ja der Wahnsinn! Die steilen Felswände, der Wasserfall und das grüne Tal mit dem Fluss darunter.

Und dann noch die Hängebrücke über den Wasserfall.

Schaut euch einfach die Fotos an von diesem Natur-Schauspiel. Auch wenn der Spruch „Eine Perle der Natur“ wahrscheinlich in allen Köpfen fest verankert ist mit Bier-Werbung, ist das hier tatsächlich eine richtige Perle der Natur.

Direkt hinter dem Wasserfall sitze ich lange auf einem Felsen und beobachte die Wassermassen, die in die Tiefe stürzen. Der See Litlverivatnet oberhalb liegt ganz ruhig da.

Mit Betreten der Brücke bin ich jetzt im Rago Nasjonalpark. Es ist ein kleiner Nationalpark mit gerade mal 171 Quadratkilometern Fläche. Er reicht aber bis zur schwedischen Grenze und hängt dort zusammen mit Padjelanta, Sarek und Stora Sjöfallet. Zusammen bilden die Nationalparks das größte geschützte Naturgebiet in Europa. Man nennt es auch die letzte Wildnis Europas. Der Name Rago kommt vom samischen Wort „Rakkok“, was „schwieriges und unwegsames Berggebiet“ bedeutet.

Nach ein paar Löffeln Dinkel mit Champignons als Stärkung, geht’s weiter. Hier muss man echt die Augen aufhalten und gut nach Markierungen Ausschau halten. Besonders gut ist der Wanderweg nicht markiert. Am meisten helfen die ganzen Fußspuren im Sand und Matsch. Was schwierig ist, wenn es über Felsen geht. So lande ich auch beim Weitergehen glatt auf einem Felsbuckel zu weit links. Also wieder ein Stück zurück, eine Treppe in den Felsen finden und zurück auf den Weg. Es geht weiter oberhalb der steilen Felswand entlang. Links unter mir das schöne Tal.

Die Felsen sind teilweise echt glatt. Jetzt kann ich die rutschigen Stellen gut sehen, da der restliche Fels trocken ist. Im Regen würde das hier wahrscheinlich nicht so viel Spaß machen. Besonders gefährlich ist der schwarze Belag auf den Felsen. Da ist es rutschig wie auf Eis. Es geht hügelig weiter, immer wieder hoch und runter. Felsen, Erde, Matsch, Wiese, Sumpf und schöne Aussichten.

Ich gehe ein ganzes Stück zu weit die Felsen runter. Auf einem Felsen ist ein großer orangener Fleck zu sehen. Von altem Moos, wie sich herausstellt, als ich daneben stehe. Blöd, dass die Markierungen auch blass orange sind und nicht wie sonst üblich in knalligem rot. Also wieder zurück. Hier war ich bestimmt nicht die Erste, die falsch gegangen ist. Der Pfad führt durch ein paar Büsche und dann auf der anderen Seite die Felsen hoch. In meine Richtung ist aber auch schon ein ausgetretener Pfad erkennbar, den man viel eher sieht. So langsam haben meine Beine auch genug, meine Oberschenkel merke ich inzwischen ganz schön.

Ich klettere zwischen Birken die Felsen hinauf.

Und gehe vorsichtig über diese Fels-Rutschen.

Dahinten über den Wasserfall muss ich rüber. Und dann finde ich hoffentlich einen Zeltplatz. Das ist in diesem Gelände ein bisschen schwierig.

Der See oberhalb des Wasserfalls ist nicht tief. Ich hole meine Stöcke raus und mache erstmal ohne Rucksack zum Testen einen Schritt ins Wasser. Okay, blöde Idee, schnell wieder raus. Die schrägen Felsen unter Wasser sind so glatt, dass ich nicht einmal auf der Stelle stehen kann, sondern immer weiter rutsche. Also gehe ich am Wasser entlang etwas weiter nach unten. Hier sind die Felsen zum Glück nicht ganz so rutschig und an zwei Stellen kann ich meinen Fuß dazwischen klemmen, um eine guten Halt zu haben. Dann stehe ich drüben. Geschafft!

Ich habe heute zum ersten Mal meine wasserdichten Socken angezogen. Und bin richtig begeistert. Obwohl ich den ganzen Tag so viel durch nasse Wiesen gegangen bin und meine Schuhe komplett nass sind, habe ich trockene und warme Füße. Nur bei der letzten Querung jetzt, ist das Wasser von oben reingelaufen und jetzt sind die Füße nass. Aber mein Ziel waren ja keine trockenen, sondern warme Füße. Selbst nass sollen die Socken ja noch gut wärmen. Das wird sich noch zeigen, ob das stimmt.

Jetzt wird erstmal das Zelt aufgebaut. Am kleinen See Sølvskarvatnan finde ich ein ebenes Stück Wiese auf einer kleinen Landzunge. Das scheint ein beliebter Platz zu sein. Es gibt einen Pfad bis auf die Landzunge und eine Feuerstelle. Später entdecke ich auch auf der anderen Seite des Sees zwei Menschen, die dort Feuer machen. Bis ich alles aufgebaut habe, ist es halb 7. Ich prüfe den Wetterbericht und die Windrichtung. Es soll aber fast windstill sein nachts. Und morgen wird ein sonniger Tag. Auch jetzt klart es schon ein bisschen auf und es sind ein paar Sonnenstrahlen zu sehen.

Ich hatte in Fauske ein paar fertige Outdoor-Mahlzeiten gekauft, um zwischendurch mal einen anderen Geschmack zu haben. Jetzt ist Markus ja nicht mehr da, dass wir Essen tauschen können. Ein paar Tüten Real Turmat und zum Testen zwei Tüten Lars Monsen Turmat. Letzteres hat im Sport Outlet nur 45 Kronen gekostet, was ein echtes Schnäppchen ist. Weniger als halb so teuer, wie die anderen Marken. Das gibt es heute Abend. Wenn ich dann Lars Monsen Kräfte in mir habe, kann auch die nächsten Tage nichts mehr schief gehen! Wem der Name nichts sagt, das ist DER norwegische Abenteurer. Er hat schon ziemlich verrückte Expeditionen und Wanderungen hinter sich. Auf jeder Hütte hier findet man Bücher von ihm darüber oder einmal habe ich sogar ein Lars Monsen Brettspiel gefunden. Die Chuck Norris Sprüche, die es bei uns gibt, gibt es hier mit Lars Monsen.

Ich sitze in meinem Zelt, beobachte die Wolken und den Himmel, esse und trinke noch einen Tee. Dann lege ich mich hin und schreibe. Wobei ich auch um 8 Uhr schon die Augen zumachen könnte. So müde bin ich nach dem anstrengenden Tag. Aber es war so schön! Was ein Auftakt für die nächsten weglosen Tage.


23,1 km
7:15 h
972 hm
623 hm
512 m