Gestern Nachmittag habe ich mich übrigens gewundert, dass meine Uhr und mein Handy plötzlich unterschiedliche Zeiten angezeigt haben. Auf meiner Uhr war es kurz nach 15 Uhr, auf dem Handy schon eine Stunde später. Als ich in die Einstellungen meines Handys schaute, fand ich den Grund. Ich gehe ja jetzt relativ nah an der finnischen Grenze entlang und Finnland liegt in einer anderen Zeitzone. Das wusste ich gar nicht. Und das obwohl Nord-Norwegen sogar nördlich von Finnland ein kleines Stück weiter nach Osten ragt. Aber südlich ist es dann eben schon eine Stunde später.

Heute stelle ich mir wieder meinen Wecker. Ich möchte bis zur Loassuhytta kommen, das sind über 30 Kilometer. Meine Sachen habe ich schon soweit gepackt, damit ich leise verschwinden kann. Ich stopfe nur noch meinen Schlafsack und meine Schlafklamotten in den Rucksack, putze meine Zähne und bin um 20 vor 7 bereit.

Draußen ist es bewölkt und es weht ein kalter Wind. Nachdem ich jetzt nördlich von Schweden bin, muss ich noch um die finnische Grenze herum. Das letzte Mal, bevor ich den schmalen Teil Norwegens hinter mir lassen kann und das Land wieder ganz breit wird. Heute und morgen steht die letzte weglose Grenzumgehung an. Bis zur Straße kann ich aber erstmal noch einem markierten Wanderweg folgen. Der Tag startet mit einem Anstieg von etwa 500 auf 900 Meter Höhe. Zuerst geht es durch den bunten Wald und links am Golddabákti vorbei.

Nach etwa einer halben Stunde fängt es an zu schneien. Erst nur ein bisschen und wenig später dann richtig dicke und viele weiße Flocken. Da ist er also, der erste Schnee. Ich denke über den Verlauf des Wetters seit Mai nach. Meine Wanderung fing mit Sonne, blauem Himmel und Hitze an. Dann kam der viele Altschnee in den Bergen. Dieser wurde abgelöst von literweise Regen, Sumpf und Mückenschwärmen. Das blieb eine ganze Weile so. Dann sind die Mücken verschwunden, der Herbst hat alles bunt gefärbt und jetzt gibt’s wieder Schnee. Und durch alles bin ich durchgelaufen, immer weiter.

Der Boden unter meinen Füßen wird weißer, je höher ich komme. Hier hat es bestimmt letzte Nacht auch schon ein bisschen geschneit. Dazu kommt wieder der starke Wind, als ich über der Baumgrenze bin.

Ich hätte nicht gedacht, dass die dünne, frische Schneedecke mir das Gehen direkt so schwer macht. Ich muss über einige Geröllfelder und die Steine sind super rutschig durch den Schnee. So macht das wenig Spaß. Ich mache mir echt Gedanken über die nächsten Wochen. War das jetzt der Auftakt zum Winter und muss ich die nächste Zeit mit mehr Schnee rechnen? Solche Geröllfelder können dann doch auch schnell gefährlich werden mit mehr frischem Schnee.

Überall um mich herum ist es weiß. Die Wolken verhindern, dass ich mehr von der Landschaft sehen kann. Es geht über eine Hochebene und dann nochmal ein Stück höher. Ich gehe ganz vorsichtig über die Steine. Auf dem Gras ist es einfacher.

An diesem Steinmännchen hängt ein rostiger Fleischwolf. Und einen Namen hat es auch. „Kjøttkvernvarden“ steht auf dem Schild. Übersetzt heißt das Fleischwolf-Steinhaufen. Später lese ich, dass das wohl irgendetwas mit der deutschen Festung gegen die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg zu tun hat, kann aber nicht mehr darüber finden.

Dieses riesige Steinmännchen überragt mich um einiges und ist auch bei so einem Wetter nicht zu übersehen.

Noch 5 Kilometer bis zur Straße. Hoffentlich wird der Schnee weniger oder es gibt zumindest bergab nicht mehr so viele rutschige Steine. Eigentlich spukt die ganze Zeit schon der Weg runter in meinem Kopf herum. Auf eine Bergab-Rutschpartie habe ich so gar keine Lust.

Zumindest kann ich da unten schon sehen, dass der Schnee weniger wird.

Der erste Abstieg ist etwas blöd und rutschig, schneeig und matschig. Dann wird es etwas besser. Wobei es matschig bleibt und der Boden wieder nasser wird. Ich gehe häufig neben der Spur durch die Sträucher, wo es trockener ist. Der Nebel verzieht sich langsam immer mehr und gibt den Blick ins Tal frei.

Dann wird es felsiger und auf dem Weg zur Straße nasche ich ganz viele Krähenbeeren und ein paar Blaubeeren. Nur noch über ein paar kleine Hügel und ich bin an der E8 angekommen.

Nach rechts wäre ich jetzt in 800 Metern in Finnland. Da gehe ich doch lieber links. Knapp 4 Kilometer folge ich dem Asphalt des Nordlysvegen, der Nordlicht-Straße. Der Wind ist so stark und eisig, dass meine Augen tränen und meine Hände trotz Handschuhen kalt werden. Ich wollte eigentlich Pause machen, aber dafür ist es mir zu ungemütlich. Also versuche ich mich stattdessen warm zu laufen und erhöhe mein Tempo.

Am nördlichen Ende des Sees Gálggojávri geht es dann weg von der Straße. Wenn ich Glück habe, gibt es bis zur Hütte eine Spur, der ich folgen kann und mein Kompass kann in der Tasche bleiben. Der Weg ist nicht einmal auf der Papierkarte eingezeichnet, ich habe ihn nur auf der offiziellen Karte der norwegischen Kartierungsbehörde auf Norgeskart entdeckt. Und auf der Statkart.No Karte in Locus Map, die aber auf denselben Daten beruht. Ich hoffe sehr, dass es den Weg gibt.

Erst gibt es aber noch nasse Füße. Ich muss über den Fluss rüber, der mir oben von der Straße ein bisschen Angst macht. Ich klettere die Böschung runter und schaue mich um. Irgendwie sieht das stark nach Hochwasser aus. Es sei denn, die Bäumchen wachsen hier gerne mitten im Fluss. Zum Glück ist es aber nicht so tief. Wobei ich nicht sehen kann, wie es auf der anderen Seite aussieht.

Die Steine sind rutschig und ich gehe ganz vorsichtig, um nicht auszurutschen. Das Wasser ist knietief und die Strömung ist okay. Nur die letzten paar Schritte gehen durch tieferes Wasser, das an meinen Beinen zerrt. Dann bin ich drüben. Jetzt gönne ich mir doch eine kurze Pause, der Wind hat etwas nachgelassen. Ich packe meine Stöcke wieder weg und esse ein paar Nüsse.

Ich stapfe durch Blaubeersträucher den Hang hinauf und finde auch direkt einen undeutlichen Pfad. Dann ist er wieder weg. Ich nehme mein Handy zur Hilfe und gehe über die Felsen hinauf. Bis ich auf eine gut sichtbare Traktorspur stoße. Juchhu!

Den restlichen Weg geht es leicht hinauf. Ich folge der breiten Spur durch Gräser und Sträucher und durch rutshigen Matsch und Sumpf. Hier ist alles noch herbstlich bunt und zum Glück keine Spur von Schnee. Das kann gerne erstmal noch so bleiben.

Die Traktorspur führt mich bis kurz vor den Fluss Didnojohka.

Dort biege ich ab auf einen schmalen Pfad, der aber auch gut sichtbar ist. Ich bin echt froh darüber, dass die Pfade mir ein bisschen Arbeit abnehmen.

Nur an der Stelle, wo ich den Bach Gáhkkorjohka queren muss, verliere ich den Pfad. Ich lande zwischen hohen Sträuchern und bleibe ständig hängen. Hinter einer sumpfigen Fläche entdecke ich den Pfad dann wieder. Es geht immer weiter am Fluss entlang, bis zu ein paar Seen, daran vorbei und weiter auf die finnische Grenze zu.

Schon von weitem sehe ich hinter dem letzten See die gelbe Hütte. Die Loassuhytta ist eine offene Statskog Hütte. Allerdings hat sie schon bessere Zeiten gesehen. Draußen liegt eine ganze Menge Müll auf 2 Haufen, nicht sehr einladend. Drinnen gibt es einen großen Raum mit 2 einfachen Etagenbetten aus Metall, einem Kamin, Tisch und ein paar Küchenschränken. Im Gegensatz zu den meisten anderen Hütten gibt es kein Gas und keine Kochmöglichkeit. Das ist ja alles okay. Aber was richtig blöd ist – es gibt nur noch 4 Scheite Holz. Die bringen nicht viel Wärme. Ich gehe um die Hütte und schaue, ob ich irgendwo noch mehr Holz finde. Fehlanzeige. Na toll! Ich überlege kurz, noch ein Stück weiterzugehen. Mir gefällt es hier nicht so richtig. Aber es ist so windig, dass ich doch bleibe. Es ist eisig, aber drinnen habe ich zumindest Ruhe vor dem Wind.

Da meine Luftmatratze definitiv bequemer ist, als die ollen Schaumstoffmatten, die hier als Matratzen dienen, errichte ich mein Lager auf dem Boden. Ich ziehe alles an, was ich habe und koche Tee und den Eintopf, den mir die Finnin gestern geschenkt hat. So sitze ich da in meinem Schlafsack. Ich schätze, dass es nicht viel wärmer als 2 Grad ist.

Zum Schreiben sind meine Finger zu kalt, also mache ich einfach früh die Augen zu. Morgen steht ein langer, wegloser Tag an.


31,1 km
7:25 h
1.028 hm
715 hm
938 m