… oder Die Børgefjell-Indianer oder Von Sumpf-Schlümpfen und Therapie-Keksen.

Es regnet. Wir sind es ja nicht anders gewöhnt. Und die Mücken versuchen eifrig uns zum Losgehen zu bewegen.

In Kajas und Simons Zelt ist noch alles still, also machen wir uns leise auf den Weg. Die beiden gehen etwas weiter westlich durchs Børgefjell. Mal sehen, ob wir sie danach nochmal treffen. Wir haben gestern noch zusammen auf die Karte geschaut, Markus und ich bleiben aber bei unserer geplanten Route.

Man würde ja glatt meinen, dass es hier eine ganze Menge gut markierte Wanderwege gibt bei den Schildern. Ich nehme aber an, dass die Angaben Luftlinie sind. Wege gibt es keine im Børgefjell. Nur die ersten 300 Meter, an der Virmahytta vorbei und bis zur Brücke, können wir einem kleinen Pfad folgen. Das Susendalen ist letztendlich unser Ziel. Die oberen Namen auf den Schildern sind übrigens die samischen Bezeichnungen.

An der Virmahytta hängt ein Thermometer. Es sind 10 Grad. Hochsommer im norwegischen Fjell? Wir haben unsere Handschuhe schon griffbereit.

Auf geht’s über den Fluss Virmaelva mit seinen tosenden Wasserfällen und rein in den Børgefjell Nationalpark.

Unser Plan ist es, möglichst schnell über die Baumgrenze zu kommen. Da soll es weniger sumpfig sein. Das Problem ist nur, dass die Wolken so tief hängen, dass wir nicht sehen, wo die Baumgrenze ist. Da müssen wir uns an die Karte halten. Soweit wir sehen können, sehen wir Bäume.

Die Frage ist, ob wir auf direktem Weg den Berg ein Stück hochgehen, in die Wolken, und hoffen, dass man dort einfacher gehen kann. Oder ob wir einem Trampelpfad bis zum Fluss Sapmanelva folgen, wenn es diesen denn gibt. Der Fluss wird so oder so unser erstes großes Hindernis. Da der Pfad tatsächlich sichtbar ist, entscheiden wir uns, ihm zu folgen.

Wir lassen den See hinter uns und stapfen bergauf.

Über nasse Wiesen, mit Mücken als Begleitung. Allerdings ist es ihnen wohl auch zu kalt, so viele sind es gar nicht. Wir hatten schon eine Nachricht von dem anderen Markus bekommen, der ein paar Tage vor uns ist. Er ist verrückt geworden mit den ganzen Mücken hier. Da hat das ungemütliche Wetter wohl auch was gutes.

Wir setzen all unsere Hoffnung auf eine Wetterbesserung ab morgen. Der Wetterbericht verspricht Sonne und Wolken. Kein Regen. Das wäre doch mal was. Wir haben keine Lust auf eine Wiederholung von der Zeit im Blåfjella-Skjækerfjella Nationalpark.

Der Pfad ist im Wald ganz gut sichtbar, auf den nassen Wiesen verlieren wir ihn aber immer wieder. Also gehen wir doch viel nach Kompass. Zwischendurch sind die Bäume und Sträucher ziemlich dicht. Das mag ich nicht so, wenn man ständig hängenbleibt. Dann habe ich immer Angst, mir in meine Kleidung Löcher reinzureißen oder Sachen zu verlieren, die hinten am Rucksack hängen. Und angenehm ist es auch nicht.

Nach den ersten 6 Kilometern und über 2 Stunden Gehzeit erreichen wir den Fluss. Wir haben eine Stelle angepeilt, an der auch einige andere vor uns schon gefurtet sind, von denen ich die Routen auf dem Handy habe. Nur ein kurzes Stück vor der Mündung in den Virmaelva.

Tatsächlich ist der Fluss hier breit und nicht so tief. Das funktioniert. Nach rechts wird der Fluss schmaler und die Strömung stärker, also nehmen wie die Stelle. Unsere Flussquerungs-Routine sieht inzwischen so aus – Markus zieht seine Schuhe aus und quert den Fluss, ich esse Nüsse. Wenn er fast drüben ist, mache ich mich auf den Weg, er trocknet seine Füße ab und zieht sich wieder an. Wenn ich drüben bin, muss ich nur noch kurz warten und weiter geht’s zusammen.

Hier haben wir übersehen, dass ein paar Meter weiter direkt der nächste, etwas breitere Bach fließt, wo wir auch noch rüber müssen. Das sorgt bei Markus für ein lautes Aufstöhnen – nicht schon wieder die Schuhe ausziehen. Ich stapfe einfach durch das Wasser und er kommt letztendlich auch mit trockenen Füßen über ein paar Steine rüber.

Der Pfad hat vor dem Fluss aufgehört, jetzt geht es weglos weiter. Und weiter nach oben, es sollte nicht mehr lange dauern bis wir die Baumgrenze erreichen.

Es wird immer felsiger und geht rauf und runter. Gar nicht so einfach zu gehen. Vor allem der hellgrüne Farn zwischen den Felsen verdeckt die Löcher und Spalten gut, so dass man mit dem Fuß erst fühlen muss, ob man auch auf festen Boden tritt. Dazu noch ein bisschen dichtes Gebüsch, das aber immer weniger wird.

Inzwischen zeigt sich die Sonne immer mal wieder ganz kurz. Zusammen mit dem Sprühregen, den wir immer wieder abbekommen, sorgt sie für ein paar schöne Regenbögen. Kleine Halbkreise, wo beide Enden sichtbar sind und ganz kräftig. Als könnte man darüber laufen. Allerdings auch nur kurz. Die ersten beiden sind schon wieder verschwunden, bevor ich aus dem Staunen komme und die Kamera herausholen kann.

Über der Baumgrenze angekommen, suchen wir uns einen schönen Pausenplatz hinter einem großen Felsen. Der schützt uns allerdings gar nicht so sehr vor dem Wind. Aber mein Magen knurrt schon und wir haben uns eine Pause verdient nach dem sumpfigen, nassen, kratzigen und rutschigen Anstieg bis hierher. Auch als es wieder anfängt zu nieseln, lassen wir uns nicht stören. Ob man jetzt im Regen sitzt oder läuft – das macht keinen großen Unterschied. Da härtet man vielleicht ein bisschen ab mit der Zeit. Jedes Mal, wenn wir kurz ein paar Sonnenstrahlen abbekommen, sind zwei genießerische Seufzer zu hören. Und der nächste Regenbogen lässt sich dann auch einfangen.

Nach der Pause geht es das Virmadalen entlang. Das Wetter wird immer besser und die Landschaft immer schöner. Das Gras ist durchzogen von grauen Felsbuckeln. Dazwischen immer wieder Sumpf-Wiesen. Aber wenn es so schön ist, sind diese gleich nur noch halb so schlimm.

Wir albern herum und denken uns zu irgendwelchen bekannten Melodien eigene Texte aus. Der nächste Hit wird unser Lied über Markus, den Sumpf-Schlumpf. Außerdem planen wir schonmal eine T(h)erapi(e)-Sitzung für heute Abend im Zelt… Unsere Lieblings-Kekse heißen nämlich „Sjokoladeterapi“. Das ist doch mal ein passender Name für Schoko-Kekse.

Oberhalb des Sees Virmavatnet müssen wir noch über ein paar kleine Schneefelder in den Senken, wo die Bäche den Berg herunterkommen.

Die Landschaft ist gespickt mit zig großen Felsblöcken. Es ist so schön hier. Der Sumpf und die Anstrengung von heute morgen sind längst vergessen.

Und auch die Sonne kämpft sich immer mehr frei und es gibt immer mal ein blaues Loch in den Wolken.

Als wir über einen Hügel kommen, sehen wir unten am Fluss eine große Herde Rentiere. Sie bemerken uns, als wir näher kommen, und rennen weg. Es sieht echt lustig aus, manchmal haben sie einen fast tänzelnden Gang. Mit ganz erhobenem Kopf, was etwas hochnäsig aussieht.

Es passiert noch ein paar Mal, dass die Herde ein Stück vor uns ist und dann die Flucht ergreift. Ich bekomme einfach kein schönes Foto von den Tieren. Als wir, noch hinter einem kleinen Hügel versteckt, wieder relativ nah dran sind, beschließen wir, uns anzupirschen wie Indianer. Wir legen uns auf den Bauch und krabbeln auf allen vieren und geduckt langsam die Kuppe hinauf. Ach Mist, wir wurden trotzdem entdeckt. Aber wir haben unseren Spaß dabei, Børgefjell-Indianer zu spielen.

Auf einem besonders schönen Felsen mit Ausblick ins Tal, auf den Fluss und kleine Wasserfälle, machen wir nochmal Pause. Sitzen einfach da und schauen die schöne Landschaft an. Am liebsten würden wir unser Zelt gleich hier aufstellen. Das machen wir zwar nicht, schauen aber in die Karte und schmieden einen neuen Plan.

Unsere eigentliche Route führt uns weiter das Virmadalen entlang und über Raentserenmehkie. Viele NPLer gehen diese Route durchs Børgefjell. Oder eben gleich eine ganze Ecke weiter westlich. Als wir hier so sitzen und auf die Karte und die Berge auf der anderen Seite schauen, fragen wir uns, wieso denn niemand da oben hergeht. Einfach quer durch das Gebirge, statt durch die Täler mit zig Flüssen, Bächen und wahrscheinlich mehr Sumpf. Die Berge sehen jetzt nicht so steil und felsig aus, keine Steilwände. Wir überlegen hin und her und skizzieren eine mögliche Route. Ist allerdings noch die Frage, wie das Wetter morgen wird, ob es tatsächlich machbar und ob der Fluss unter uns im Tal überquerbar ist. Lauter Fragezeichen… Unsere Lösung: Wir gehen jetzt noch ein paar Kilometer weiter, quer zum Fluss runter, wo er in den See mündet. Dort schauen wir, ob wir rüberkommen und suchen uns auf der anderen Seite einen Zeltplatz. Das hat den Vorteil, dass wir die Flussquerung hinter uns haben und sie nicht morgen früh als erstes ansteht. Dann haben wir noch ungefähr 2 Kilometer, um einen Schlafplatz zu finden. Bis zu der Stelle, wo wir morgen dann hochgehen würden in die Berge. Falls wir nicht rüberkommen, gehen wir auf dieser Seite weiter und bleiben bei der ursprünglichen Planung. Morgen früh schauen wir nach dem Wetter und wie die Schneise aussieht, die wir ausgeguckt haben für den Aufstieg. Wenn irgendetwas nicht passt, bleiben wir auch beim ursprünglichen Plan. Das finden wir beide gut und machen uns frohen Mutes auf den Weg nach unten.

Der Fluss ist hinter der Mündung in den Virmavatnet ziemlich breit und es gibt ein paar tiefe Stellen und Stromschnellen. Wir gehen noch ein ganzes Stück am Fluss entlang, bis wir eine passende Stelle finden. Diese Seite sieht okay aus, aber wir können nicht erkennen, wie tief das Wasser auf der anderen Seite ist. An einer Stelle mit vielen Steinen in der Mitte wagen wir uns rüber und gehen noch eine ganze Weile auf den Steinen mitten durch den Fluss, bevor wir auch die zweite Hälfte queren.

Das wäre schonmal geschafft. Wenn wir tatsächlich morgen den Weg oben herum wählen, dann müssen wir auch keine Flüsse mehr queren. Die Aussicht auf einen Tag mit trockenen Füßen ist verlockend – wenn denn das Wetter mitspielt.

Zwischend Sumpf, Tümpeln, Schnee und Felsen finden wir tatsächlich einen schönen Zeltplatz auf trockener, ebener Wiese. Ich frage über meinen Notfallsender das Wetter ab, damit wir die Zelte passend zur Windrichtung aufbauen können. Das hat sich bewährt.

Laut Wetterbericht sind es aktuell gefühlte 3 Grad. Das kommt hin. Es ist echt kalt. Ich ziehe über meine Schlafsachen noch meinen Fleece-Pulli und die Daunenjacke. Dann gibt es Tee und etwas Warmes zu essen, bevor ich mich in meinen Schlafsack kuschle.


15,9 km
6:05 h
683 hm
255 hm
881 m