Ich schlafe ein paar Stunden, liege aber dann wach. Als ich auf die Uhr schaue, ist es 2 Uhr morgens. Irgendwann denke ich, dass ich ja auch einfach schon losgehen könnte, statt hier herumzuliegen. Schlafen kann ich eh nicht mehr. Auch wenn ich eigentlich überhaupt keine Lust habe, mich der Kälte, dem Regen und dem Wind zu stellen. Ich rufe nochmal das Wetter ab. Der Sturm kommt jetzt schon um 15 Uhr. Dann ist es echt nicht verkehrt, früh aufzubrechen. Ich muss sowieso im Dunkeln starten. Meinen Wecker hatte ich eigentlich auf 5 Uhr gestellt.

Da es bei dem Wetter wohl keine Pause geben wird, esse ich erst noch was Warmes. Vorgezogene Mittagspause um 3 Uhr nachts eben. Ich hatte meine feuchten Liner-Socken, Handschuhe und mein Langarmshirt mit in den Schlafsack genommen und habe zumindest eine trockene erste Lage. Dafür ist mein Schlafsack von außen klitschnass. Ich ziehe mich an, kann mich aber noch nicht aufraffen. Noch ein bisschen hier liegen. Ich stelle meinen Wecker auf eine halbe Stunde und genieße noch eine Weile die Wärme. Ich könnte es auch gut noch länger hinauszögern, aber okay. Los geht’s.

Bis ich alle meine nassen Sachen eingepackt habe, ist es dann auch schon kurz vor 5 Uhr. Beim Zeltabbauen werden meine Hände wieder so kalt, dass ich mich erstmal warmlaufen muss. Um mich herum ist alles weiß und es schneit.

Ich gehe im Schein meiner Stirnlampe am Straßenrand entlang. Mein Blick ist nach unten gerichtet, damit ich möglichst wenig Schnee vom Wind ins Gesicht gefegt bekomme. Ich sehe die weiße Fahrbahnmarkierung, daneben den schneebedeckten Asphalt und alle paar Meter eine rote Stange. Außerdem die vom Licht angestrahlten Schneeflocken, die waagerecht in wirren Streifen von links nach rechts gepustet werden. Ich gehe schnell, frage mich, ob ich das 50 Kilometer lang durchhalte und ob ich nicht besser langsamer starten sollte. Aber so wird mir wenigstens relativ schnell warm.

Da ich vorhin so viel Tee getrunken habe, muss ich alle halbe Stunde pieseln. Die ersten beiden Male funktionieren noch ganz gut. Aber um meine Hose aufzubekommen, muss ich die Handschuhe ausziehen und das wird bei dem Wetter immer mehr zum Horror. Dann werden meine Hände nass und dadurch und den Wind noch kälter. Ich habe Probleme den Knopf meiner Regenhose mit meinen steifen Fingern aufzubekommen und meine 5 Lagen wieder anzuziehen. Mit den nassen und kalten Fingern komme ich nicht mehr so einfach wieder in die Handschuhe rein und es dauert immer länger, bis ich sie wieder anhabe und die Finger zumindest soweit auftauen, dass sie nicht mehr schmerzen.

Mir kommt das erste Auto entgegen. Ein paar Minuten später kommt es zurück und hält neben mir. Ein junger Norweger fragt, ob alles in Ordnung sei. Er hätte sich gewundert, dass ein Mädel so früh morgens alleine die Straße entlangläuft. Ich erkläre ihm, was ich mache und nachdem er beruhigt ist, dass wirklich alles okay ist, dreht er wieder und fährt weiter.

Langsam wird es hell. Und anscheinend auch wärmer, wobei es mir nicht so vorkommt. Aber die Straße ist nun nicht mehr weiß und es regnet. Ununterbrochen. Es dauert nicht lange, bis ich bis auf die Haut nass bin. Diesem Dauerregen und dem Druck durch den Wind hält wohl auch die teuerste Markenjacke nicht stand. Weder Regenjacke, Regenhose, noch die wasserdichten Socken halten das Wasser jetzt noch ab.

Nach 8 Kilometern stelle ich den ersten Rekord auf für heute. Ich knacke die 3.000 Kilometer. Unglaublich! Das zugehörige Foto muss allerdings warten, dafür ist es jetzt zu ungemütlich.

Ich höre die ganze Zeit schon Musik. Heute brauche ich ein bisschen Ablenkung. Und die Zeit geht auch erstaunlich schnell um. Um kurz vor 8 Uhr geht es schon hinab nach Hopseidet. In dem Tal ist es relativ windstill, aber sobald ich unten am Fjord ankomme, ist der Wind wieder voll da.

Es ist ein nicht einmal 1 Kilometer breiter Streifen Land, der die Nordkyn Halbinsel mit dem Festland verbindet. Im Westen liegt der Eidsfjord und auf der anderen Seite der Hopsfjorden.

Es gibt ein kleines Toilettenhäuschen und ich stelle dahinter im Windschatten kurz meinen Rucksack ab. Die ersten 18 Kilometer habe ich geschafft. Es gibt schnell ein paar Nüsse und ich mache die beiden Fotos. Länger halte ich es aber nicht aus. Gut, dass es jetzt bergauf geht, dann wird mir vielleicht schneller wieder ein bisschen wärmer.

Hier nochmal der Blick zurück auf die schmale Verbindung. Jetzt bin ich auf der Nordkyn Halbinsel und damit meinem Ziel schon ziemlich nah. Das ist echt verrückt.

Als ich den Anstieg hinter mir habe, führt die Straße durch weitläufiges Fjell. Es gibt kaum mehr Hügel, die den Wind ein bisschen bremsen oder mir Schutz bieten würden. Der Wind kommt die ganze Zeit von links. Meine komplette linke Seite fühlt sich sehr viel eisiger an als die rechte Seite. Wenn der Wind doch mal kurz drehen könnte. Meine Haut tut schon weh, wenn ich meinen Arm anwinkle. Es ist alles so steif. Neben mir hält wieder ein Auto. Der Fahrer fragt, ob er mich mitnehmen soll, er würde auch nach Mehamn fahren. Aber ich lehne dankend ab. Ich schaffe das. Das passiert heute noch 5 oder 6 mal.

Zwischendurch ist der Wind so stark, dass ich einen Ausfallschritt nach rechts mache. Wenn er mich zu stark auf die Straße drückt, gehe ich in knöcheltiefem Wasser, dass sich in der Fahrrinne gesammelt hat. Wenn Autos kommen, gehe ich im Gras neben der Straße und lehne mich noch mehr gegen den Wind, um nicht im falschen Moment auf die Straße gedrückt zu werden. Ich freue mich immer, wenn die Autofahrer mir winken und winke zurück.

Mir ist so kalt. Meine Füße sind müde, aber das ist egal. Ich werde es bis nach Mehamn schaffen. Ich zögere es noch ein bisschen hinaus, mir den Kilometerstand auf meiner Uhr anzusehen. Bitte lass es schon mindestens 30 Kilometer sein. Als ich dann nachschaue, habe ich 34 Kilometer geschafft. Noch 14 Kilometer.

Als noch ein Auto neben mir hält, ziehe ich automatisch meinen rechten Handschuh aus, um mir einen Ohrstöpsel aus dem Ohr zu ziehen. Dann verstehe ich den Fahrer besser. Als ich weitergehe, verfluche ich mich dafür. Ich bekomme die nasse Wolle erst nach zig Versuchen wieder über meine eisige Hand gezogen.

Nach 36 Kilometern erreiche ich den Abzweig nach Kjøllefjord. Den wollte ich eigentlich gerne  nehmen und dann nach ein paar Kilometern nach Norden zum Kinnarodden abbiegen. Aber das ist bei dem Wetter definitiv zu gefährlich. Also geht es nach rechts Richtung Mehamn. Hier sind jetzt mehr Autos unterwegs.

Ich bin ein einziger tropfnasser Eiszapfen. Heute Nacht im Zelt zu schlafen, wäre echt nicht lustig. Aber ich habe es ja fast geschafft. Ich höre den ganzen Tag schon dieselbe Playliste mit 20 Liedern, weil ich meine Handschuhe ausziehen müsste, um mein Handy zu bedienen. Aber das stört mich nicht. Die Gute-Laune-Musik hilft.

Als ich schon auf der Zielgeraden nach Mehamn bin, höre ich rechts von mir Flugzeuglärm. Eine kleine Maschine ist gerade im Landeanflug. Stimmt, Mehamn hat ja einen Flughafen. Ich schaue dem Flieger hinterher und stelle mir vor, dass meine Familie darin sitzt. Wie sie die Nasen an die Scheibe drücken und mich als kleinen Punkt hier hergehen sehen. Und dass sie mit ausgebreiteten Armen in Mehamn auf mich warten und ich alle ganz fest drücken kann. Diese schöne Vorstellung ist meine Motivation für die letzten eisigen Kilometer.

Als ich dann irgendwann das offene Meer vor mir sehe und die ersten Häuser, drehen meine Gefühle am Rad. Ich muss laut lachen. Immer wieder. Ich kann es nicht glauben, dass ich hier bin. Mein Kopf ist ansonsten ziemlich leer. Das geht bestimmt 10 Minuten so, dass ich immer wieder laut lachen muss. Gemischt mit ein paar tränenlosen Schluchzern oder so. Keine Ahnung, das machen anscheinend über 3.000 Kilometer Abenteuer mit einem. Da muss man den Emotionen einfach freien Lauf lassen. Auch wenn mein endgültiges Ziel der Kinnarodden ist, fühlt es sich hier schon so an, als wäre ich angekommen. Es ist ja auch die letzte Zivilisation und von hier beginnt meine Rückreise am Ende.

Ich gehe am winzigen Flughafen vorbei und komme zum Supermarkt. Die Straße links rein und bis zum Ende. Dort ist das Adventure Camp Mehamn. Ich habe es geschafft! Und es ist gerade einmal 14 Uhr. Rechtzeitig, bevor der Wind noch heftiger werden soll. Und damit habe ich noch einen Rekord aufgestellt. Mein längste Tagesetappe war bisher 42 Kilometer lang. Das war an Tag 26 nach Geilo. Heute waren es 48 Kilometer und das bei diesem schrecklichen Wetter.

Ich stehe vor der verschlossenen Tür und rufe Vidar an. Ich solle kurz warten, er wäre gleich da. Die paar Minuten kommen mir vor wie eine Ewigkeit. Ich gehe auf und ab und im Kreis, bleibe in Bewegung, damit ich nicht ganz erfriere in meinen nassen Klamotten. Dann kommt ein Auto hupend angefahren. Vidar begrüßt mich fröhlich, klopft mir auf die Schulter und gratuliert mir. Was für eine herzliche Begrüßung. Er drückt mir auch gleich mein Paket in die Hand, das er jetzt 5 Monate für mich verwahrt hat.

Wir gehen rein und er sagt immer wieder, wie beeindruckt er ist. Er bietet mir einen Tee an, aber ich muss erst aus meinen Sachen raus. Hoffentlich ist im Rucksack noch was trocken geblieben. Also zeigt er mir das neue Sanitärgebäude. Meinen Rucksack kann ich direkt im Vorraum der Sauna auspacken und alles aufhängen zum Trocknen. Er gibt mir Handtuch und Bademantel und macht auch die Sauna gleich an. Die spendiert er mir. Dann lässt er mich alleine und bereitet mir ein Zimmer vor. Ich schäle mich aus allen nassen Lagen und stelle mich unter die warme Dusche. Im Spiegel sehe ich, dass meine Lippen dunkelblau sind und ich an den Oberschenkeln außen wieder rote Beulen habe. Das warme Wasser ist herrlich. Ich bekomme nicht genug und stehe ganze 20 Minuten unter der Dusche. Richtig warm wird mir trotzdem nicht. Ich ziehe meine Schlafsachen an, die zum Glück bis auf ein paar Flecken am Shirt trocken geblieben sind. Darüber die Daunenjacke und meine dicken Wollsocken an die Füße.

Dann gehe ich zurück ins Hauptgebäude und bekomme einen Tee. Bis die Sauna aufgeheizt ist, sitze ich mit Vidar zusammen. Wir reden über meine Wanderung und meinen Plan für die nächsten Tage. Er zeigt mir auf der Karte den Weg zum Kinnarodden, mögliche Zeltplätze und Süßwasser-Quellen. Nächste Woche soll das Wetter besser werden. Diese Woche wird das wohl nichts mehr. Ich muss mich auf 8 Kilometer über scharfkantige Steine einstellen und nach dem letzten Tal gibt es keinen Windschutz mehr.

Er gibt mir außerdem Tipps für weitere Touren, die ich machen könnte. Da ich ja jetzt quasi in der Warteschleife für besseres Wetter hänge, kann ich die Umgebung noch ein bisschen weiter erkunden. Die anderen Wanderungen sind nicht so schwierig wie die zum Kinnarodden. Vidar meint, das wäre eine Expedition für sich, die man nicht unterschätzen sollte.

Außerdem erzählt er mir eine Menge über diesen Ort und die Geschichte. Mehamn ist ein Fischerdorf mit 700 Einwohnern. Die ganzen LKWs, die mir entgegengekommen sind, transportieren Fisch, der exportiert wird. Lange sind die jungen Leute weggezogen, weil man als Fischer nicht viel verdient. Aber seit ein paar Jahren werden Königskrabben exportiert und das Blatt hat sich gewendet. Dafür gibt es ordentlich Geld und die jungen Leute kommen zurück, weil sie merken, dass man davon gut leben kann. Die Königskrabben werden hauptsächlich nach Südkorea exportiert. Und zwar lebend, damit sie dort dann in den riesigen Becken in den Restaurants darauf warten können, dass sie von einem Gast bestellt werden.

Da ich trotz warmer Dusche und Tee immer noch friere und blaue Lippen habe, ist die Sauna jetzt genau das Richtige. Vorher schmeiße ich meine Klamotten noch in die Waschmaschine. Sie müssen ja sowieso trocknen, das können sie dann auch gleich sauber. Dann setze ich mich in die Sauna. Aus dem kleinen Fenster schaue ich direkt auf den Hafen. Ich beobachte, wie der Wind über das Wasser fegt. Ich habe jetzt zum Glück zwei Nächte ein Dach über dem Kopf und muss mir keine Gedanken über einen windgeschützten Zeltplatz machen. Morgen bleibe ich hier, da der Wind weiter zunimmt. Danach soll es besser werden.

Meine Haut fühlt sich auch nach dem zweiten Saunagang noch kühl an. Aber ich bin so fertig und müde, dass ich mich einfach nur noch hinlegen will. Ich hänge noch schnell meine Klamotten in den Trockenschrank und beziehe dann mein Zimmer. Im Moment bin ich der einzige Gast. Nur eine der Hütten ist an einen Handwerker vermietet.

Ich esse was und kuschel mich in meine Decke. Ich bin völlig erledigt. Meine Hände sind immer noch total geschwollen von der Kälte und die äußeren Knöchel meiner rechten Hand tun richtig weh. Morgen früh sieht bestimmt wieder alles besser aus.

Eine Sache fehlt aber noch. Das Foto mache ich zwar erst am nächsten Tag, aber es gehört hierhin. Da es heute Morgen dunkel war, als ich diese Marke überschritten habe, muss ich eben kreativ werden. Jippieh, 3.000 Kilometer sind geschafft!


47,8 km
8:30 h
581 hm
884 hm
345 m