Regen prasselt auf das Zelt und ich würde am liebsten den ganzen Tag in meinem Schlafsack bleiben. Also schreibe ich erstmal noch vom Tag gestern. Im Moment mache ich das ganz gerne morgens, bevor ich losgehe. Das funktioniert besser als abends, wenn ich so müde bin. Empfang habe ich auch, also schaue ich mal nach meinen Rückreise-Optionen. Auch wenn ich eigentlich noch gar nicht daran denken mag. Ich möchte meine Zeit hier auf jeden Fall voll ausnutzen und habe ja auch noch einige Kilometer vor mir, bis ich dann wirklich am Ziel ankomme. Am liebsten würde ich ganz entschleunigt mit den Hurtigruten von Mehamn zurück nach Bergen fahren. Eine langsame Rückreise, damit ich noch ein bisschen Zeit für mich habe und die ganzen Eindrücke verarbeiten kann. In Bergen möchte ich mich ein bisschen umschauen, da soll es so schön sein. Und dann mit dem Schiff weiter nach Hirtshals fahren. Dort holt mich mein guter Freund Olaf ab, was ziemlich cool ist. Da spare ich mir die Zugfahrt mit zig Umstiegen. Da ich am 2. November wieder arbeiten muss, schaue ich also nach den spätesten Daten. Die Rückreise bis nach Hirtshals dauert 8 Tage, inklusive 2 Tagen in Bergen. Und die Schiffe fahren nicht täglich. Gut passen würde es, wenn ich in Mehamn in der Nacht vom 21. auf den 22. Oktober an Bord gehe. Dann wäre ich am 29. Oktober mittags in Hirtshals.

Da es am Kinnarodden häufig nebelig und stürmisch sein soll und man 25 Kilometer nur über rutschige Steine geht, plane ich 2 Tage pro Weg und einen zusätzlichen Puffertag ein. Also sollte ich am 16. Oktober an einem der beiden Startpunkte losgehen. Wenn ich von diesem Datum weiter zurückrechne, sollte ich meine Etappenziele an diesen Daten erreichen:

  • Nordkalottstua 24.09.
  • Skoganvarre Villmark 05.10.

Mal sehen, ob das alles so aufgeht. Da muss ich mich schon ein bisschen ranhalten jetzt.

Bis ich dann soweit bin, ist es schon fast mittags. Dann kann ich ja auch erst noch was essen. So gehe ich erst um Viertel nach 12 los. Das war ja jetzt schon fast ein halber Pausentag. Aber zumindest hat es aufgehört zu regnen.

Ich suche mir eine Stelle im Bach, wo das Wasser nicht so tief ist. Heute, wo es so ungemütlich ist, habe ich mal wieder meine wasserdichten Socken an. Das Wasser geht mir bis etwas über die Knöchel und meine Füße bleiben tatsächlich trocken. Genial. Ich merke zwar die Kälte, als das Wasser in meine Schuhe läuft, aber die dünnen Merinosocken, die ich unter den wasserdichten Socken trage, bleiben komplett trocken.

Dann geht es zwischen Feldern die Schotterstraße entlang und an der Bardu Huskylodge biege ich rechts ab. Die Hunde machen einen ganz schönen Lärm. Es sind bestimmt 50 Hunde. Jeder hat seine eigene kleine Holzhütte. Manche liegen darin, andere stehen auf dem Dach oder daneben. Sie bellen und heulen, was stark an Wölfe erinnert. Als ich vorbeigehe, höre ich aus dem Garten nebenan eine Frauenstimme. Ein kurzes „Hey“ und mit einem Schlag sind alle Hunde ruhig.

Nun liegen ungefähr 600 Höhenmeter vor mir. Es geht hoch, über einen Pass und dann runter ins nächste Tal. Meine Beine sind allerdings richtig schwer. Da hatte ich seit über 2.000 Kilometern keinen Muskelkater und jetzt fühlt es sich ein bisschen danach an. Der steile An- und Abstieg gestern war wohl anstrengender für die Muskeln, als ich dachte. Ich gehe langsam und freue mich über die noch breite Straße und den einfachen Weg das Budalen hoch.

Nach den ersten 3 Kilometern ist damit aber Schluss. Ich quere die Budalselva über eine Brücke und gehe über sumpfige Wiese weiter. 14 Kilometer und mittlere Schwierigkeit bis ins Isdalen, das schaffe ich.

Auf der Wiese verliere ich gleich den Pfad und finde ihn erst im Wald wieder. Am Bach entlang geht es weiter nach oben. Der Pfad ist von Rentieren total zertrampelt und matschig. Das sieht nach einer ganzen Herde aus bei den vielen Spuren.

Ich habe noch ein bisschen Empfang und kündige mich für morgen Abend auf der Huskyfarm in Innset an. Das sind dann 2 mal 24 Kilometer, das passt doch gut. Erst war ich gar nicht sicher, ob ich dort vorbeigehe, aber ich werde dem Isdalen bis zur Straße folgen und komme dann sowieso direkt in Innset vorbei. Meinen ursprünglich geplanten Weg querfeldein über die Berge bis zur Lappjordhytta tue ich mir bei dem Wetter nicht an. Zumal der Wanderweg ab da dann auch ziemlich sumpfig sein soll.

Plötzlich entdecke ich neben dem Pfad ein paar ziemlich große Kothaufen. Definitiv nicht von Elch oder Rentier. Etwa von einem Bären? Die dicken Fladen sind ungefähr so groß, wie meine beiden Hände mit weit gespreizten Fingern. Da ich nicht sicher bin und die Haufen relativ frisch aussehen, fange ich laut an zu singen. Beim Weitergehen schaue ich mich immer mal wieder um, zwischen den Bäumen bewegt sich aber nichts. Ich singe alles, was mir gerade in den Sinn kommt. „Country Roads“, „Puff, the Magic Dragon“, „Der Globus quietscht und eiert“, „Von den blauen Bergen kommen wir“. Manchmal auch nur ein paar Zeilen und dann das nächstes Lied. Irgendein wirres Medley, das die Tiere auf mich aufmerksam machen soll. Dann haben sie genug Zeit sich zu verziehen und wir stehen nicht plötzlich überrascht voreinander. Abdrücke kann ich aber weiter nur von den Rentieren sehen. Oder vielleicht auch einem Elch, die Spuren ähneln sich ziemlich. Aber Elche sind eher Einzelgänger, dazu sind das hier zu viele Abdrücke.

Auch wenn das Singen beim Bergaufgehen anstrengend ist, höre ich nicht auf. Erst als ich eine ganze Weile keine Kothaufen mehr sehe und aus dem Wald komme. Hier habe ich einen besseren Überblick als zwischen den Bäumen.

Allerdings hört hier auch plötzlich der Pfad auf. Na toll, damit habe ich nicht gerechnet. Und Lust darauf, mir selber einen Weg zu suchen, habe ich heute auch nicht besonders. Aber es hilft ja nichts. Ich schaue auf mein Handy, um dem auf der Karte eingezeichneten Wanderweg halbwegs zu folgen und mache mich an den steilen Anstieg.

Und es ist richtig steil. Neben mir tost der Bach den Berg hinab. Ich gönne meinen müden Beinen ganz viele kleine Pausen und beobachte die Wolken, die am Ende des Budalen über den Bergen hängen. Zwischendurch sind ein paar Schneefelder an den steilen Felswänden zu sehen.

Nach etwas über 200 Höhenmetern habe ich den steilsten Teil geschafft. Es geht seichter weiter hinauf, über nasse Wiese und Moos und dann wird es felsiger. Immer noch ist kein Pfad und keine Markierung in Sicht, das ärgert mich ein bisschen. Links von mir schaut zwischendurch mal der Vesleklettan aus den Wolken.

Der Wind wird hier oben immer schlimmer. Ich muss mich richtig dagegen lehen. Er kommt direkt von vorne und würde mich scheinbar am liebsten den Hang rückwärts wieder runterschubsen. Nach vorne gebeut gehe ich weiter. Es geht jetzt zwischen Sørgårdskardet und Bonnesskardet über einen hügeligen Pass. An mehreren Seen vorbei, über Bäche und Felsen. Meine Füße sind immer noch trocken, was mich freut. Ich entdecke ein großes Steinmännchen, das ist aber ziemlich einsam. Ich schaue weiter auf mein Handy, um nicht so weit vom „Weg“ abzukommen.

Vielleicht gibt es auf dem Weg runter ja wieder Markierungen oder zumindest einen sichtbaren Pfad, wenn es wieder grüner wird. Hoffnungsvoll kämpfe ich gegen den Wind an. Ich mache nur eine kleine Pause hinter einem großen Felsen, aber ohne Bewegung wird mir schnell zu kalt. Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, kann ich dann die grünen Berghänge sehen, die ins Isdalen hinabfallen.

Leider ist immer noch kein Pfad in Sicht. Ich bin gerade ein Stück durch den Rohkunborri Nasjonalpark gegangen und an dem kleinen Hinweisschild, das die Grenze markiert, finde ich auch einen Steinhaufen mit rotem Punkt. Wieder der einzige. Sieht ja ganz so aus, als wären das uralte Markierungen und der Weg gar nicht mehr wirklich existent.

Erst steige ich über die nasse Wiese ab, es ist ziemlich rutschig, aber zum Glück nicht so steil. Bis ich dann vor einer Kante stehe. Darunter Gestrüpp, ein ziemlich steiler Hang, ein paar Bäche mit glitschigen Felsen und unten im Tal die Isdalselva. Da will ich hin. Und ich hätte gedacht, dass der Wanderweg auf der Karte zumindest dort eingezeichnet ist, wo man auch tatsächlich gehen kann. Fehlanzeige.

Die letzten 150 Höhenmeter bis zum Fluss bahne ich mir irgendwie ganz vorsichtig einen Weg zwischen den Sträuchern hindurch. Im Zickzack geht es steil runter. Oft mit seitlichen Schritten. Ich halte mich an Ästen fest und steige manche Stufen rückwärts hinab. Zwischendurch schaue ich mich um und frage mich, wie ich es nach ganz unten schaffen soll.

An dieser Stelle muss ich von oben ziemlich knobeln. Aber wie immer, ein Schritt nach dem anderen, irgendwie gibt es dann schon einen Weg. Und wenn der zwischendurch heißt, sich auf den Hintern zu setzen, um so einen Tritt weiter unten zu erreichen oder einfach um nicht so tief zu fallen, falls ich wegrutsche. Nach einer Weile bin ich komplett durchnässt. Auch wenn es aufgehört hat zu regnen – ohne dass ich es mitbekommen hätte. Dazu war ich zu sehr auf den Abstieg konzentriert.

Ich schaffe es heile nach unten. Nur um vor dem nächsten Hindernis zu stehen. Irgendwie muss ich über den wilden Bach rüber. Ich klettere die Böschung wieder ein bisschen hoch und gehe flussabwärts. Irgendwo muss es doch eine flachere Stelle geben. Hinter ein paar Felsen werde ich fündig. Das Wasser ist allerdings doch einen Ticken zu tief, so dass es von oben in meine wasserdichten Socken läuft. Nicht direkt beim Durchqueren, aber danach merke ich, wie meine Socken langsam nass werden. Dann eben mit nassen Füßen weiter, alles andere ist ja auch schon nass.

Immer wieder klammere ich mich an die Hoffnung, dass es bald wieder einen Pfad gibt. Aber auch auf der anderen Seite des Baches ist nichts. Einfach gar nichts, kein Pfad, keine noch so kleine Spur, keine anderen Fußabdrücke. Es geht durch kniehohe Sträucher den Hang entlang. Ich schaue nochmal auf die Karte. Vielleicht habe ich ja Glück, wenn es in den Wald geht. Ich habe noch 8 Kilometer vor mir, bis ich am Ende dieses Tals auf eine Straße im Sørdalen treffe.

Stattdessen wird es immer schwieriger. Der Hang ist zwischendurch ziemlich steil, das Gestrüpp überragt mich und unter dem Farn kann ich den löchrigen Boden nur ertasten. Ich komme mir vor wie im Dschungel. Das kann doch jetzt echt nicht sein. Toller Wanderweg! Ständig bleibt mein Fuß an Wurzeln und Ästen hängen, ich strauchele und rutsche dreimal ganz weg. Ich bleibe stehen und könnte heulen. „Weiter“ sage ich leise vor mich hin und gehe weiter. „Weiterlaufen, einfach weiterlaufen“. Ständig sage ich die Wörter vor mich hin. Vor mir sehe ich eine Fläche mit Flechten und Blaubeeren. Kein Gestrüpp mehr. Als ich dort ankomme und über den Buckel gucken kann, stehe ich allerdings vor einer Kante, hinter der es steil nach unten geht. Mir entfährt ein lautes „Ernsthaft?!“. Kurz stehe ich wie angewurzelt da. Dann wieder ein leises „Weiter“. „Geh weiter. Klar schaffe ich das. Ich schaffe das. Ich habe schon ganz andere Sachen geschafft“. So geht das die ganze Zeit in meinem Kopf. Ich hoffe immer noch auf einen Pfad, wenn ich in den Wald komme. Hoffnung ist eine gute Motivation. Zum Navigieren nutze ich schon seit dem steilen Abstieg die Kartenanzeige auf meiner Uhr, wo der angebliche Wanderweg auch eingezeichnet ist. Dann habe ich die Hände frei, um mich festzuhalten und brauche nur kurz auf mein Handgelenk schauen.

Ich klettere ein Stück den Hang hinauf, um oberhalb der Abbruchkante weiterzugehen. Irgendwo geht es hoffentlich auch wieder runter. Ich denke noch, dass der Weg auf jeden Fall genau hier herführen müsste, wenn es einen gäbe. Andere sinnvolle Möglichkeiten gibt es hier einfach nicht. Und tatsächlich entdecke ich ein ganzes Stück weiter dann einen roten Punkt an einer Birke. Erst denke ich, dass es wieder eine einzelne Markierung ist, aber auch an 2 Birken ein Stück dahinter sehe ich rote Punkte. Ja, endlich! Ich stelle meine Uhr zurück auf die normale Anzeige mit Zeit und Distanz, da die Karte sehr viel mehr Akku verbraucht und folge den Punkten. Irgendwann wird auch ein Pfad immer deutlicher sichtbar und ich erkenne Fußspuren. Ob die Leute nur bis hier gehen und dann umdrehen? Oder ob sie sich auch durch den Dschungel schlagen und es gar nicht so schlimm finden?

Ich folge dem Pfad, was aber nicht heißt, dass der Weg jetzt einfach ist. Ich komme ein bisschen schneller voran, da die Richtung vorgegeben ist, aber es ist weiter sehr rutschig. Immer wieder klettere ich durch Senken, steige über kleine Bachläufe, rutsche über glitschige Steine und balanciere am Hang entlang durch hohes Gestrüpp. Auf keinen Fall würde ich diesen Abschnitt weiterempfehlen.

Für die herbstlich bunten Bäume und Sträucher, die sich zu beiden Seiten des Tals die steilen Hänge hochziehen, bis sie auf graue Felsen treffen und die langen Wasserfälle dazwischen habe ich heute kaum Augen. Die sind auf den Boden vor mir gerichtet, damit ich auf den Füßen bleibe. An diesem schönen Wasserfall bleibe ich dann aber doch kurz stehen.

Da ich so langsam vorwärts komme, ist es inzwischen schon nach 18 Uhr. Und ich habe noch mindestens 4 Kilometer vor mir. Ich möchte unbedingt das Ende des Tals und die Straße erreichen. Ich habe keine Lust, morgen früh hier weiterzugehen. Um halb 8 geht aber schon die Sonne unter. Ich versuche ein bisschen schneller zu gehen, aber das ist schwierig bei dem rutschigen Untergrund. Ich freue mich, als ich endlich um die Kurve komme und die steilen Wände der Berge auf der anderen Seite des Sørdalen sehe.

Ganz langsam kommen sie immer näher. Und gegen Ende wird es flacher und ich komme noch ein bisschen besser voran auf dem Pfad durch den Wald. Kurz vor 7 Uhr und noch 2 Kilometer. Noch 1,5 Kilometer. Dann nur noch 900 Meter. Das schaffe ich.

Endlich kommt das Dach einer Hütte in Sicht. Und dann habe ich es geschafft! Damit hatte ich ja mal überhaupt nicht gerechnet heute, mit dieser Dschungel-Prüfung. Jetzt will ich nur noch mein Zelt aufstellen, essen und schlafen. Ich bin fertig mit der Welt. An der Hütte fängt ein Fahrweg an. Allerdings brauche ich auch unbedingt Wasser, sonst gibt es nichts zu essen. Oder nur trockenes Knäckebrot und dunkle Schokolade. An einem Baum entdecke ich einen roten Pfeil. Der Wanderweg geht weiter durch den Wald. Weit kann es aber nicht mehr sein, nur bis zur Brücke. Und vielleicht finde ich ja kurz vorher einen Zeltplatz direkt am Fluss. Also nehme ich den schmalen Pfad und mache mich im Jogging-Tempo an den letzten kurzen Abstieg.

Es wird tatsächlich flacher und dann folge ich einer Traktorspur. Ich kämpfe mich durch die paar Bäume und schaue, ob ich über die Felsen runter zum Fluss komme. Das sollte funktionieren zum Wasser holen. Also gehe ich wieder ein paar Meter zurück und stelle mein Zelt etwas abseits zwischen die Bäume. Es ist schon richtig düster zwischen den hohen Tannen. Ich klettere vorsichtig zum Fluss runter und fülle alle Behälter, die ich habe, mit Wasser auf. Dann muss ich nicht nochmal aufstehen.

Jetzt sind es morgen zwar 28 Kilometer bis zur Huskyfarm in Innset, aber die führen nur über Straßen. Da dürfte es nicht so eine Überraschung geben wie heute. Da ich gesehen habe, dass Susanne und Anders vor ziemlich genau 4 Jahren denselben Weg gegangen sind, schaue ich noch kurz auf ihren Blog. Sie haben nämlich auch tägliche Berichte geschrieben. Und auch sie schreiben, dass der nicht vorhandene Weg das Isdalen hinab ein Albtraum war. Dann hat sich ja nichts geändert.


18,5 km
6:25 h
806 hm
896 hm
822 m