Von meinem Schlafplatz kann ich direkt aus dem Fenster schauen. Wie jetzt? Es ist weiß draußen. Es liegt Schnee. Da drehe ich mich doch nochmal um und bleibe noch ein bisschen liegen.
Es sieht gut aus, wie grün es unten im Tal ist und ab ca. 2.000 Meter Höhe weiß gepudert.
Ich ziehe mich an und auch gleich Regenhose und -jacke über. Dazu noch Mütze und Handschuhe. Der Hüttenwirt meint, ich solle vorsichtig sein, weiter oben liege noch viel mehr Schnee. Aber es ist schon jemand vor mir losgegangen, dann sei wenigstens schon gespurt. Wir hätten uns ja auch zusammen tun können, zu zweit wäre das besser. Aber da haben wir gestern Abend noch nicht mit gerechnet, als wir gequatscht haben. Es ist nämlich mein Schlafnachbar, der vor mir losgegangen ist.
Ich verabschiede mich von den anderen, die ins Tal absteigen. Dann geht es los in den Schnee. Den Bockkarkopf kann ich vergessen bei dem Wetter. Ich nehme jetzt den direkten Weg. Also geht es hinauf zur Bockkarscharte. Vielleicht verzieht sich die Wolke da oben ja noch.
In Kehren geht es den steilen Hang hoch. Je höher ich komme, desto weißer wird es. Nach den ersten 200 Höhenmetern liegt der Schnee bestimmt schon 10 cm hoch. Mit jeder weiteren Kehre noch höher. Blöd ist, dass auch die Wegmarkierungen zugeschneit sind. Hier links am Felsen blitzt noch ein bisschen rot durch den Schnee. Da muss man aber schon sehr genau schauen.
Plötzlich höre ich es neben mir rumpeln. An der Felswand links über mir lösen sich ein paar Steine. Ich bleibe wie angewurzelt stehen. Zum Glück ist es ein paar Meter vor mir. Ich warten bis der Steinschlag aufhört. Das ist gruselig. Und ich habe mich ziemlich erschreckt. Ich warte noch ein bisschen und gehe dann zügig an der Stelle vorbei.
Ich bin so froh, dass schon gespurt ist und ich einfach den Fußspuren folgen kann. Sonst würde ich noch sehr viel langsamer vorwärts kommen. Oder ich wäre schon umgedreht. Ich stecke inzwischen in der Wolke, um mich herum ist alles weiß.
Nach etwa einer Stunde sind die Kehren geschafft. Jetzt wird es felsiger. Ohne Schnee ist es bestimmt kein Problem die letzten Meter hoch in die Scharte zu klettern. Jetzt sind die Stahlseile gefroren, mit Eis unmantelt und es hängen große Eiszapfen daran. Die Felsen sind rutschig. Ich fühle mich, als wäre ich auf einer Expedition im tiefsten Winter. Ganz vorsichtig geht es weiter hoch.
Inzwischen schneit es wieder. Die Flocken werden immer dicker. Eigentlich richtig schön. An einer Stelle, wo ich einen großen Schritt hoch über einen Felsspalt machen muss, komme ich erst nicht weiter. Vielleicht sollte ich wieder absteigen? Ich finde aber noch eine Kante, die ich als Tritt benutzen kann. Weiter geht’s. Ich habe allerdings sehr viel Respekt vor dem Weg.
Ich frage mich, wie die Eiszapfen so schnell so groß werden können. Gestern hat es ja noch nicht gefroren hier oben. Da haben die Leute von Schneeregen berichtet. Das muss also alles nur von letzter Nacht sein.
Nach etwa 1:30 Stunden erreiche ich die Scharte. Und hocke mich direkt hin, dass der Wind mich nicht umbläst. Ganz schön eisig hier oben. Zwischen den beiden Felsen mit den Markierungen geht es hindurch. Jetzt wieder nach Österreich rüber. Die Grenze verläuft direkt über den Kamm. Die Felsen direkt unter mir kann ich sehen. Ansonsten nur weiß. Da geht es jetzt steil runter.
Zum Glück ist es nur ein relativ kurzes Stück Kletterei. Ich setze mich auf den Hintern und taste mit den Füßen nach Tritten. Dann sehe ich etwas unter mir einen breiteren Pfad. Das sieht gut aus. Da wird es dann einfacher. Ich freue mich schon.
Die Freude hält aber nur kurz. Nach ein paar entspannten Metern auf dem Weg, stapfe ich durch Tiefschnee weiter. Wieder sehr froh über die Fußspuren. Keine Chance hier einen Pfad zu erkennen. Und Markierungen sehe ich gar keine mehr.
Laut Karte führt der Pfad unterhalb von Hochfrottspitze und Mädlegabel über den Schwarzmilzferner. Den letzten Gletscher in den Allgäuer Alpen. Der ist allerdings ziemlich traurig kaum mehr als Gletscher erkennbar, so geschrumpft ist er schon. Und heute sehe ich davon sowieso nichts. Beruhigend ist trotzdem, dass es keine Spalten gibt. Ich sehe ja nicht, wo ich hintrete.
Ich folge den Fußspuren weiter. Die enden aber in einer Sackgasse. Der Typ kann doch nicht einfacher verschwunden sein. Also ein Stück zurück, da führen die Fußspuren in eine andere Richtung weiter. Ein Stück steil runter und im Bogen wieder zurück. Na toll. Das sieht aus, als hätte derjenige vor mir jetzt auch die Orientierung verloren. Mir wird ein bisschen mulmig zumute. Ich denke an Norwegen und dass ich das Querfeldeingehen da doch gut geübt habe. Ich kann das! Ich hole mein Handy raus und schaue auf meiner Offlinekarte mit GPS, wo der Weg sein müsste. Nicht hier runter, sondern irgendwie am Hang weiter. Einen großen Bogen. Also gehe ich langsam in die Richtung. Dabei sinke ich zwischendurch bis zum Knie ein.
Plötzlich entdecke ich in dem Nebel da hinten eine Person. Erst wie durch eine Milchglasscheibe, bis ich näher komme. Ich rufe und winke. Es ist Tim, der vor mir gestartet ist und hier schon eine Stunde herumirrt und den Weg sucht. Dann sind wir jetzt wenigstens zu zweit. Das gibt mir ein etwas besseres Gefühl.
Der Hang ist ziemlich steil und ich denke mir immer wieder, dass der Pfad hier doch gar nicht herführen kann. Aber laut Karte tut er das. Wir halten Ausschau nach irgendwelchen Makierungen oder Steinmännchen. Dann teilen wir uns auf. Tim geht etwas unterhalb über die Ebene, weil er dort ein Steinmännchen entdeckt hat und weitere Markierungen suchen will. Ich gehe weiter am Hang entlang, wo laut Karte der Pfad sein sollte. Wenn jemand was entdeckt, rufen wir.
Ich falle zwischendurch ein paar Mal auf die Knie oder rutsche aus. Mit so viel Schnee hätte ich echt nicht gerechnet. Aber zumindest friere ich nicht. Irgendwie kämpfen wir uns vorwärts, bleiben wieder stehen, suchen, überlegen, stapfen langsam weiter. Ob wir wohl da hoch müssen? Oder bleiben wir doch eher unten? Wir teilen uns wieder auf. Kurze Zeit später entdecke ich eine Markierung. Ganz deutlich an einem großen Fels über uns. Jaaaaa! Ich rufe Tim zu mir und wir klettern den Hang hinauf. Noch ein Stück weiter entdecken wir eine Eisenstange, die aus dem Schnee schaut. Das muss der Abzweig zum Gipfel sein. Auf die Mädelegabel geht es aber heute leider nicht. Das ist gar keine Frage.
Stattdessen geht es wieder im Bogen am Hang entlang. Es ist ganz angenehm, dass es ein paar Ebenen etwas unterhalb gibt und nicht direkt neben uns steil hinunter geht. Wir klettern über ein paar Felsen, finden noch eine Markierung und stapfen über eine Ebene. Dann sehe ich zwei Menschen. Sie kommen uns entgegen. Perfekt, dann können wir ja gleich ihren Fußstapfen folgen. Ich freue mich sehr, die beiden zu treffen. Wir tauschen uns kurz über die Wege aus und geben uns gegenseitig Tipps. Die beiden kommen von der Kemptner Hütte und wollen zum Waltenberger Haus. Wir haben also denselben Weg, nur in umgekehrter Richtung. Sie warnen uns vor einem kleinen Klettersteig, aber ansonsten hätten sie versucht, alle Markierungen freizulegen.
Wir folgen ihren Fußspuren und nach einer Weile ist tatsächlich der Pfad wieder zu erkennen. Und auch Markierungen sieht man, sogar alle paar Meter. Die höchste Stelle haben wir hinter uns gelassen, jetzt geht es immer weiter runter. Und damit wird auch der Schnee langsam weniger. Wir haben es geschafft.
Wir unterhalten uns beim Gehen und haben zwischendurch sogar ein bisschen Aussicht. Die Wolken geben immer mal wieder die Sicht auf ein paar Gipfel frei.
Hier machen wir auch gleich Pause. Mir gefällt es gerade so gut. Es gibt eine kleine Stärkung, bei mir einen Müsliriegel. Ganz so lange halten wir es aber nicht aus, dann wird uns doch kalt.
Tim hat eine Spiegelreflexkamera dabei und verschiedene Objektive. Er macht auch ein paar tolle Aufnahmen, wo ich mit drauf bin. Es ist super lieb, dass ich diese verwenden darf. Danke!
Es sieht echt gut aus, wenn wir zwischendurch ein bisschen Ausblick haben. Ein Winterwunderland mitten im Sommer.
Diese Blume wehrt sich auch dagegen, ganz eingeschneit zu werden und hält tapfer den Kopf oben.
Wir folgen dem Pfad weiter und gehen unterhalb zackiger Felsformationen her. Da vorne ragt der Kratzer empor.
Als wir um eine Ecke kommen, stehen da plötzlich zig Steinböcke am Hang. Sie schauen auf und machen Anstalten abzuhauen, bleiben dann aber doch stehen. Wir gehen langsam und leise ein bisschen näher ran. Oberhalb vom Weg stehen noch mehr Tiere. Wir beobachten sie eine ganze Weile, bis sie dann doch irgendwann weglaufen.
Der Schnee wird noch weniger und der Boden immer nasser. Etwas weiter unten ist es schon wieder grün.
Es geht noch ein paar enge Kehren hinab. Ein paar große Felsstufen und dann stehen wir auf einem breiten Weg. Die Hütte ist schon in Sicht. Die letzten Meter kann man ganz entspannt gehen. Ohne Schnee und ohne sich konzentrieren zu müssen. Gegenüber ganz viele schöne Wasserfälle.
Und daneben ein hoher Felsgipfel, der mir echt gut gefällt. Das ist der Muttlerkopf.
Dann ist es geschafft. Wir haben die Hütte erreicht. Das war ja mal ein abenteuerlicher Tag.
Die Kemptner Hütte ist eine der größten, mit fast 300 Schlafplätzen. Sie wirkt gar nicht mehr wie eine Berghütte auf mich, eher wie ein großer Gasthof. Sie liegt direkt am E5, den wir hier kreuzen. Dadurch ist sie wahrscheinlich immer gut besucht.
Es war schön heute mit dir zusammen zu wandern, Tim.
Ich hänge meine Sachen direkt in den Trockenraum, melde mich an und ziehe mich um. Dann setze ich mich zu Tim in die Stube. Wir essen eine Suppe zum Aufwärmen. Tim möchte noch auf den Muttlerkopf, zum Abendessen wieder herkommen und dann steigt er ab ins Tal. Ich nutze die Zeit, um ein bisschen zu schreiben. Dazu gibt es ein heißes Skiwasser. Irgendwie wird mir gar nicht richtig warm. Ich ärgere mich, dass ich dieses Mal keine Teebeutel dabei habe. Als Mitglied im Alpenverein bekommt man auf den Hütten für 3 Euro einen Liter heißes Teewasser. Das ist ein Schnäppchen im Gegensatz zu den anderen Getränkepreisen.
Später setzen sich 2 Kerle zu mir an den Tisch. Sie machen eine Vater-Sohn-Tour, bevor der Sohn bald seine Ausbildung anfängt. Wir schauen, was der Spieleschrank so hergibt und verbringen den Nachmittag damit, „CATAN – Das Spiel“ zu spielen. Ein Strategie-Brettspiel. Das macht Spaß. Tim setzt sich zu uns, als er wiederkommt. Vielleicht möchte ich auf meinem Weg morgen auch noch einen Abstecher auf den Muttlerkopf machen.
Nach einem Tipp vom Hüttenwirt gehe ich in einer Regenpause nochmal raus und in die Richtung, in der es Empfang geben soll. Bis zum dritten Pfosten der Materialseilbahn. Mit o2 habe ich aber kein Glück. Da habe ich sowieso das Gefühl, dass der Empfang an vielen Stellen sehr viel schlechter ist, als mit den anderen Netzen. In einer Großstadt wie Dortmund macht das keinen Unterschied mehr. Aber hier merkt man es deutlich. Für meine nächste Wanderung werde ich wohl meinen Vertrag wieder ändern. So müsst ihr halt jetzt länger warten auf neue Berichte von mir.
Ich lege mich schon früh ins Bett. Gefühlt wimmelt es hier von Leuten, die den E5 gehen. Also eine Alpenüberquerung von Oberstdorf nach Meran machen. Auf der Tour ist das hier die erste Hütte. Ich bin gespannt, ob es morgen überhaupt noch andere Leute gibt, die in meine Richtung gehen.