Heute habe ich gar nicht so richtig Lust loszugehen. Das Lager muss man erst bis halb 9 räumen, also sitze ich noch bis kurz nach 8 Uhr in meinem Bett rum. Dann ziehe ich mich doch mal an, fülle mein Wasser auf und hole meine Sachen aus dem Trockenraum. Normalerweise kommt meine Lust wieder, wenn ich ein bisschen gegangen bin. So auch heute. Das Wetter ist perfekt zum Wandern. Bewölkt, aber zwischendurch blauer Himmel. Nicht zu warm und trocken.

Die meisten Menschen folgen dem Schild Richtung Holzgau, da führt der E5 lang. Ich biege zum Krottenkopf ab und bin froh, dass hier nicht so viele Leute hergehen. Ich sehe nur 2 Wanderer weit vor mir.

Der Große Krottenkopf ist heute der besondere Gipfel, wo ich gerne ans Gipfelkreuz anschlagen möchte. Es ist der höchste der Allgäuer Alpen und die Nummer 1 meiner Liste. Als ich nach dem ersten Anstieg das Obere Mädelejoch erreiche, kann ich ihn auch schon sehen. Es ist der linke Felskoloss.

Der schmale Pfad führt über Grashänge und man muss immer wieder einen Bach queren. Ich habe erst überlegt, auf dem Weg noch einen Gipfel mitzunehmen, nämlich den Muttlerkopf. Der Berg sieht so schön aus. Es ist der hohe Fels auf dem ersten Bild oben. Aber ich denke, der Krottenkopf reicht mir heute.

Ich überhole 2 Frauen aus Belgien. Für die eine ist es ihre allererste Bergtour und sie ist sehr unsicher. Sie sind ganz froh, als ich ihnen den einfachsten Weg durch einen Einschnitt mit Bach zeige. Sie witzeln schon herum, dass ich sie bestimmt nochmal überhole, wenn ich vom Gipfel wiederkomme. Sie gehen auch zur Hermann-von-Barth-Hütte.

Hoch zur Krottenkopfscharte wird es dann steiniger. In engen Kehren geht es über Geröll und Felsen nach oben. Es liegt auch immer mal wieder ein bisschen Schnee.

Hier der Blick zurück, als ich eine kurze Trinkpause mache. Die Landschaft gefällt mir. Gegenüber schaut man auf den Hauptkamm, wo ich hergekommen und durch den Schnee gestapft bin.

Dann erreiche ich die Scharte. Am Rand hängen große Schneewechten. Da halte ich lieber Abstand. Darunter geht es in den Abgrund. Bisher scheint sich noch niemand an den Abstieg aus der Scharte gemacht zu haben. Ich sehe keine Fußspuren.

Erstmal geht es für mich aber auch nach links und hoch zum Krottenkopf. Auf dem Foto sieht es gar nicht so steil aus, das täuscht. Der Schnee ist zum Glück schön pappig und hält gut. Darunter ist Geröll und Schotter. Heute war schon jemand oben und ich kann einfach den Fußspuren folgen. In Kehren geht es aufwärts.

Mir kommt ein Pärchen entgegen und ein bisschen später noch ein Mädel, das schon am Gipfel war. Sie warnt mich, dass zwischendurch falsch gespurt sei, aber nur ein paar Meter. An den Stellen folge ich trotzdem den Spuren und nicht den Markierungen. Das sieht einfacher aus.

Es geht über Felsen und immer wieder brauche ich die Hände. Der Abstieg macht mir jetzt schon ein bisschen Angst. Ich komme an dicken Eiszapfen vorbei, die an den Felsen hängen. Irgendwann muss ich über eine schräge Felsplatte, wo es keine Kerben gibt, die einem Halt geben. Der Fels ist nass und darauf liegt lockerer Schnee. Ich stehe auf zwei kleinen Vorsprüngen und traue mich nicht den nächsten Schritt zu machen. Wenn man einmal anfängt darüber nachzudenken, was passiert, wenn man abrutscht, dann blockiert der Kopf einfach irgendwann. Ich überlege, ob ich lieber zurückgehen soll. Aber dazu müsste ich mich erstmal irgendwie umdrehen. Auch nicht so einfach gerade. Ich bekomme es aber nach einer Weile hin und schaue mir nochmal in Ruhe den Weg vor mir an. Über die schräge Platte traue ich mich definitiv nicht. Aber darüber ist tiefer, pappiger Schnee, der gut hält. Da trete ich Kerben rein und klettere über dem Fels her. Das funktioniert gut.

Es gibt noch ein paar Stellen, wo ich ziemlichen Respekt habe. Sowieso bewege ich mich die ganze Zeit sehr vorsichtig. Auf einen hohen Felsblock versuche ich mit den Knien hochzukommen und mich dann irgendwie weiter hochzuziehen. Auf den Knien rutsche ich im Schnee aber direkt zurück. Das ist sowieso meistens keine gute Idee. In der Nähe finde ich noch eine Stufe, die ich mit dem Fuß erreiche. Links von mir geht es die ganze Zeit steil und weit bergab.

Dann hängt ein Fels so über dem Weg, dass darunter eine Art Tunnel ist. Man könnte sich daran vorbei drücken, aber da habe ich Angst, dass ich mit meinem Rucksack irgendwo hängen bleibe und abrutsche. Das ist mir zu schmal. Also setze ich mich auf den Hintern, ducke mich und schiebe mich langsam nach oben, unter dem Fels hindurch.

Die Felskante, auf der man sich bewegt, ist zwischendurch ziemlich schmal. Rechts davon eine fast senkrechte Felswand. Diese ist komplett mit Eis überzogen, so dass man sich gar nicht richtig festhalten kann. Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Halte mich möglichst dicht am Fels, mein Schwerpunkt zum Berg hin. Ich mache einen Schritt mit rechts, dann mit links. Auf einen Fels, der hoch mit Schnee bedeckt ist. Und rutsche ab.

So schnell kann ich gar nicht denken. Das nächste, was ich registriere, ist, dass mein Fuß aufgefangen wurde. Von einem dicken Fels ein bisschen unter mir. Ich sitze halb auf der Felskante, wo ich gerade noch stand. Der Fels, wo mein Fuß drauf gelandet ist, hält mich. Ich setze mich richtig hin und ziehe die Beine an. So kann nichts passieren. Tränen laufen meine Wangen runter und ich zittere am ganzen Körper. Der Fels hat mich gerettet. Glück gehabt. Ich versuche nicht den Abhang hinabzuschauen und mir auszumalen, was hätte passieren können. Da möchte ich gar nicht weiter drüber nachdenken.

So sitze ich eine ganze Weile da. Bis der Schock nachlässt und ich mich einigermaßen beruhigt habe. Etwas weiter unten sehe ich noch ein Pärchen, die nach den ersten Kehren aber wieder umdrehen. Sie schauen immer wieder zu mir hoch, vielleicht hören sie meine Schluchzer.

Es wären keine 50 Meter mehr zum Gipfel. Ich bin so nah dran. Aber das ist keine Option mehr. Ich brauche gar nicht darüber nachzudenken, ob ich noch weitergehe. Ich möchte nur noch runter hier. Leider ist das also heute der Ersatz für das Gipfelfoto.

Mit immer noch leicht zittrigen Beinen stehe ich auf und mache mich ganz langsam auf den Weg zurück. Dass meine Knie und das linke Schienbein bluten ist nebensächlich. Ich merke es zwar, mit dem Schienbein bin ich auf die Ecke vom Fels gehauen, aber ich konzentriere mich nur auf meine Schritte. Ich rutsche auf dem Hintern wieder unter dem Felsvorsprung hindurch und klettere vorsichtig die Felsen hinab. Der Schnee ist inzwischen matschiger, als noch beim Aufstieg. Ich bin froh, als ich bei den Kehren ankomme. Da macht der Abstieg zwar überhaupt keinen Spaß, aber es ist fast geschafft. Das Pärchen ruft zu mir hoch, ob alles in Ordnung sei. Naja, jetzt ja.

Als ich nach fast einer Stunde endlich die Scharte wieder erreiche, setze ich erstmal meinen Rucksack ab und hocke mich in das Schotterfeld. Ich atme tief durch und esse meinen letzten Müsliriegel. Der Weg auf den Krottenkopf ist zu Recht als schwarze Tour markiert. Ich glaube ohne Schnee und Eis macht das richtig Spaß. Wenn der Fels trocken und griffig ist, ist das eine anspruchsvolle, aber schöne Kletterei auf den Gipfel. Jetzt hätte ich schon an der ersten Stelle, wo ich mich erst nicht weiter getraut habe, auf mein Gefühl hören und umdrehen sollen. Das vorhin zeigt, wie schnell etwas passieren kann auf diesen ganzen schmalen und ausgesetzten Pfaden hier oben. Da kann man noch so viel Erfahrung haben.

Mein Bedarf an Abenteuer ist jetzt jedenfalls erstmal gedeckt. Gestern das Herumirren in Schnee und Nebel. Heute die rutschigen Felsen. Die letzten Tage waren die Wege sowieso ziemlich anspruchsvoll. Jetzt wünsche ich mir nur noch einfache und langweilige Wanderwege. Am liebsten würde ich mich gerade runter ins Tal beamen.

Ich mache mich auf den Weg zur Hütte. Laut Schild sind es noch 2:30 Stunden. Inzwischen gibt es eine Spur durch die Schneewechte und die Scharte hinab. Der Blick ist grandios.

Nach ein paar engen Kehren über ein Schotterfeld schlängelt der Pfad sich am steilen Hang entlang. Und gefällt mir echt gut. Ich liebe diese Landschaft einfach. Hier nochmal der Blick zurück.

Ich freue mich, dass ich einfach vor mich hin trotten kann. Ich gehe langsam und lasse mir Zeit. Da ist mir jetzt nach. Ich hole tatsächlich die beiden Belgierinnen wieder ein und muss sie erstmal beruhigen, dass es mir gut geht. Meine Beine sehen schlimmer aus, als es ist. Ich gehe ein Stück hinter ihnen her und sie meinen, dass sie ganz froh sind, dass ich bei ihnen bin. Die Kletterstellen verlangen ihnen schon einiges ab. Das hier ist auch echt keine einfache Tour für die erste Bergwanderung. Dann wollen sie aber Pause machen. Ich gehe schon weiter. Wir sehen uns heute Abend an der Hütte.

Da vorne entdecke ich einen Bergsee. Das sieht gut aus. Die Stelle hatte ich mir bei meiner ursprünglichen Planung als möglichen Biwakplatz markiert. Das wäre echt super gewesen. Mitten im Hermannskar.

Es folgen zwischendurch doch noch ein paar Stellen, wo man die Hände braucht. Einfache Kletterpassagen, manche schmalen Stellen auch mit Seilversicherung. So wie hier die Felsen mit der schmalen Kerbe für die Füße. Vielleicht habe ich mein Bein vorhin ein bisschen verdreht, jedenfalls schmerzen meine linke Leiste und der Oberschenkel. Vor allem, wenn ich das linke Bein bei hohen Stufen stark belaste.

Am Hermannskarsee suche ich mir einen schönen Platz und mache nochmal Pause. Die Sonne kommt gerade raus, das ist herrlich. Außerdem wasche ich mit dem kalten Wasser vorsichtig das getrocknete Blut von meinen Beinen. Dann sieht es nicht mehr ganz so schlimm aus. Die Wunden lasse ich einfach so. Ich glaube, es ist besser, sie an der Luft trocknen zu lassen, als wenn der Verband daran festklebt.

Als die Sonne hinter den Wolken verschwindet, wird es mir zu kühl und ich gehe weiter. Folge wieder dem Pfad am Hang entlang und freue mich über die Aussicht und die zackigen Felsen um mich herum. Ich überhole die Belgierinnen zum dritten Mal.

Ich habe gar nicht damit gerechnet, dass ich noch zweimal durch eine Scharte muss. Und Scharte bedeutet eigentlich immer ein bisschen Kletterei. Steil hoch und dann wieder runter. Hier geht’s durch die Schafscharte.

Dann führt der Pfad durchs Birgerkar. Die Ilfenspitzen da hinten sehen gut aus. Die Felsen sehen aus wie aneinander gereihte Scheiben.

Als ich die Felsen erreiche, komme ich an einem Abzweig vorbei. Hier biege ich auf den Düsseldorfer Weg ab, wenn ich übermorgen zum Prinz-Luitpold-Haus gehe. Heute geht es geradeaus weiter und es folgt die letzte Scharte. Nochmal am Stahlseil über die steilen Felsen.

Danach kommt die Hütte in Sicht. Jetzt geht es nur noch runter. Erst über Steine, dann durchs Gras. Vorbei an zig Schafen.

Ziel erreicht. Die Hermann-von-Barth-Hütte. Hier bleibe ich die nächsten beiden Nächte.

Die Hütte ist die ursprünglichste in den Allgäuer Alpen. Sie ist schön klein und hat nur 65 Schlafplätze. Die Stube ist gemütlich und das Lager gefällt mir richtig gut. So darf das aussehen auf einfachen Berghütten.

Ich treffe Antonia wieder, dir mir am Krottenkopf entgegenkam. Wir setzen uns zusammen in die Stube und unterhalten uns gut. Ich gönne mir ein Stück Sachertorte. Mit Sahne. Wenn schon, denn schon. Da habe ich nicht mit gerechnet, dass es hier Sachertorte gibt. Später treffe ich im Waschraum Britta, die auch alleine unterwegs ist und sich zu uns an den Tisch setzt. Und Anni und Alicia, die beiden Belgierinnen, kommen auch unversehrt an. Es ist ein sehr lustiger Abend. Wir sprechen viel Englisch, damit alle mitreden können. Jeder hat spannende Geschichten vom Wandern, Klettern und Draußen sein zu erzählen. Was ein schöner Abend.

Bevor ich mich hinlege, verarzte ich dann doch noch meine Beine. Nicht, dass ich alles vollschmiere heute Nacht. Vor allem am Schienbein hat es immer noch nicht ganz aufgehört zu bluten. Das scheint eine tiefere Macke zu sein. Ich habe in meinem Erste-Hilfe-Set Wundgaze mit Paraffin. Die Auflagen sollten nicht so festkleben. Darüber eine normale Wundauflage und Tape. Sehr professionell. Aber es reicht zum Schutz.


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