Da ich heute nur noch knapp 20 Kilometer vor mir habe, lasse ich mir morgens Zeit. Ich freue mich schon richtig auf meinen Pausentag. Ich habe inzwischen beschlossen, dass ich morgen mit dem Zug nach Narvik fahre, um meine Kamera abzuholen. Ich wollte den Umweg eigentlich zu Fuß einbauen, das hätte mich aber nochmal mindestens 2 Tage extra gekostet und ich hätte denselben Weg hin und zurück oder eine ganze Menge Straße laufen müssen. Also geht’s mit dem Zug hin, in der Stadt mache ich meinen Pausentag, futtere alles auf, was ich finde und fahre wieder zurück nach Katterat. Von dort kann ich meine Wanderung fortsetzen, ohne meine Regeln gebrochen zu haben. Normalerweise möchte ich zwar auch an meinen Pausentagen nichts mit Motor benutzen, aber hier mache ich eine Ausnahme.
Als ich noch in meinem Zelt hocke und schreibe, höre ich draußen Schritte. Ich schaue um die Ecke und sehe einen Wanderer. Ein Schwede, der mir fröhlich einen guten Morgen wünscht. Er hat nur 200 Meter weiter gecampt und geht heute in die Richtung, wo ich herkomme. Wir quatschen eine ganze Weile. Die weißen Schleier letzte Nacht waren doch Polarlichter, er hat sie auch gesehen. Dann waren das wohl meine ersten. Allerdings waren sie so schwach, dass ich das nicht gelten lasse. Das geht noch sehr viel schöner.
Heute geht es weiter das Tal Oallavággi entlang. Bei herrlichem Sonnenschein. Die Sonne ist so warm, dass ich mal wieder in kurzer Hose losgehe. Und nach den ersten Kilometern ziehe ich auch meine Windjacke noch aus und gehe nur im Top weiter. Es ist windstill, was zur Abwechslung mal sehr angenehm ist.
Es geht immer weiter durch das herbstliche Tal, an einigen spiegelglatten Seen vorbei. Die Spiegelungen sind klasse.
An einer kleinen Nothütte treffe ich auf eine Gruppe junger Handwerker. Sie bauen eine neue Hütte und sind schon die ganze Woche hier oben. Viele wirken nicht älter als 16. Sie sitzen auf den Felsen und machen wohl gerade Pause. Einer von ihnen fragt mich als erstes, ob ich Empfang hätte. Dann ob ich TikTok nutze. Empfang – keine Ahnung, ich glaube nicht. Und TikTok – nein, danke, brauche ich nicht. Er meint, dass ich das aber unbedingt machen müsse auf meiner Wanderung. Er guckt mich nur blöd an, als ich sage, dass ich lieber direkt mit Leuten rede und kein Social Media benutze. Bevor ich weitergehe, gebe ich ihm den Tipp auf den Berg hinter ihm zu steigen. Auf den Gipfeln hat man meistens Empfang. Das scheint ja das einzige zu sein, was ihn interessiert.
Ein Stück weiter bleibe ich an einem Wegweiser stehen. Es gibt auf beiden Seiten des Tals einen Wanderweg. Wobei für mich der Weg östlich vom Fluss kürzer wäre. Nur haben mir jetzt schon ein paar Leute erzählt, dass er nicht gut markiert wäre. Als ich noch überlege, wo ich hergehe, kommen 2 Wanderer aus genau der Richtung. 2 Deutsche, die von Riksgränsen zum Kebnekaise wollen. Sie haben noch nie von Norge på langs gehört, kennen den DNT nicht und sind sich auch nicht bewusst, dass sie gerade durch Norwegen wandern und nicht mehr in Schweden sind. Ich muss ein paar Mal schmunzeln, vor allem als sie dann irgendwann begreifen, wie lange ich schon unterwegs bin. Dann kommen sie aus dem Staunen nicht mehr raus und ich habe meinen Spaß dabei. Auf jeden Fall wäre die Markierung aber in Ordnung, sie hätten den Weg gut gefunden. Dann gehe ich auch da her.
Nachdem es bisher relativ eben war, geht es jetzt runter. Ein bisschen felsiger als vorher. Der schmale Pfad führt rechts am Hang entlang. Links tost ein mehrstufiger Wasserfall über die Felsen.
Ich bin immer wieder begeistert von den Farben heute. Hellblauer Himmel, dunkelblaue Seen, grüne, gelbe und rote Vegetation und graue Felsen.
Nach ein paar großen Felsblöcken habe ich einen ersten Blick ins nächste Tal, ins Sørdalen. Ich muss unten an den Hütten vorbei und irgendwo über den Fluss. Auf der anderen Seite verläuft ein Fahrweg, dem ich dann bis nach Katterat folgen kann. Ich freue mich schon auf das entspannte Gehen auf dem breiten Weg. Dann hat der Kopf mal Pause und ich muss nicht so auf den Weg achten wie sonst.
Der Wanderweg ist jetzt aber tatsächlich immer spärlicher markiert und schwieriger zu finden. Zu den Hütten geht es eine steile Wiese zwischen glatten Felsen hinab, wo ich die Markierungen schon immer wieder verliere. Dann habe ich es über den Djevlepasset, den Teufelspass, geschafft.
Ab den Hütten gibt es gar keine Markierungen mehr. Ich folge einem kaum mehr sichtbaren Pfad durch Felder von Blaubeeren. Als das Gestrüpp aber höher wird und der Boden sumpfiger, ist er gar nicht mehr zu erkennen. Ich rutsche auf einem Felsen aus und ärgere mich über die fehlenden Markierungen. Ich schaue aufs Handy und nach einer Weile finde ich dann wieder eine schwache Spur. Zumindest auf den trockenen Hügeln kann ich ihr folgen. Dazwischen geht es immer wieder ohne Pfad über Sumpfwiesen. Bis ich kurz vor der eingezeichneten Watstelle wieder Steinmännchen entdecke. Am Fluss steht jemand, wahrscheinlich sucht er gerade eine Stelle zum Furten. Ich muss erst noch über einen letzten Hügel drüber.
Da das Wasser so laut rauscht, hört mich der Mann erst, als ich direkt neben ihm stehe und zum dritten Mal „Hei“ rufe. Zu meinem Erstaunen fragt er direkt, ob ich Sophie sei. Es ist Ketil, bei dem ich heute Nacht ein Bett reserviert hatte. Das ist ja eine Überraschung. Ich hatte ihm vorhin noch eine SMS geschrieben, wann ich ungefähr da bin und da dachte er, er holt mich hier ab. Er ist gerade dabei, einen dicken Stein ins Wasser zu werfen, damit ich keine nassen Füße bekomme. Das ist super lieb, aber die habe ich schon. Da ich auch immer noch ein Stück springen müsste, nehme ich lieber ein Stück weiter den Weg durch das fast knietiefe Wasser. Vor allem mit dem schweren Rucksack springe ich nicht gerne. Ketil springt rüber und da es noch recht früh ist, sage ich ihm, dass ich gerne noch eine Weile Pause in der Sonne machen würde. Also suchen wir uns einen windgeschützten Platz hinter Felsen. Wir unterhalten uns gut und es ist echt interessant. Ketil ist Rentner, betreibt aber im Sommer die Katterat Fjellstue. Ich bin sein letzter Gast für dieses Jahr. Er war Überlebenstrainer beim Militär und kennt sich gut damit aus, was man alles essen kann in der Natur. So lerne ich, dass ich Krøkebær essen kann, wenn ich kein Wasser mehr habe. Man zerkaut die saftigen Beeren und spuckt die Kerne wieder aus. Auf deutsch sind es Zwittrige Krähenbeeren. Sie wachsen hier überall um uns herum und schmecken echt gut. Außerdem zeigt er mir Tyttebær, also Preiselbeeren. Die würde es auch später zum Essen geben. Sie sind aber nicht reif und die Ausbeute war dieses Jahr ziemlich klein. Er musste ziemlich lange Sammeln für seine Marmelade.
Er ist mit dem Fahrrad hier hochgefahren und fährt jetzt langsam neben mir her. Er meint, ich wäre so leichtfüßig und ziemlich schnell unterwegs trotz meinen schweren Rucksacks. Jetzt geht es ja auch den Fahrweg entlang, das ist einfach. Mit wunderschönem Blick ins Tal.
Nach einer Weile fährt er dann schonmal vor, um das Abendessen vorzubereiten. Es sind noch ungefähr 5 Kilometer. Bald verschwindet die Sonne schon hinter den Bergen links von mir und es wird schnell wieder richtig kalt. Ich freue mich die ganze Zeit an dem Blick ins herbstliche Tal.
Dann komme ich irgendwann am Bahnhof in Katterat an. Direkt dahinter ist Ketils Haus, neben ein paar weiteren Häusern. Eine winzige Siedlung, in der niemand mehr ganzjährig lebt. Dafür sei der Winter zu hart. Er winkt mir schon aus dem Fenster zu und öffnet mir die Tür. Ich bekomme frische Bettwäsche, er zeigt mir die Dusche im Keller und ich darf die Waschmaschine benutzen. Super! Ich genieße die Dusche, das fühlt sich echt gut an. Danach stecke ich alles, bis auf meine Schlafsachen, in die Waschmaschine.
Zum Abendessen gibt es eine traditionelle Suppe, die die Bauarbeiter häufig gegessen haben, die die Eisenbahnlinie gebaut haben. Sie wurden „Navvies“ genannt. 1902 wurde die Ofotbanen fertiggestellt. Hauptsächlich wird darüber Erz transportiert, das aus den Minen in Kiruna kommt. Auf die Suppe kommt ein Klecks selbstgemachte Preiselbeermarmelade. Es schmeckt mir richtig gut. Wir essen zusammen und Ketil hat weitere spannende Geschichten zu erzählen. Er war mit dem Militär als Geologe in Afghanistan und in den 90ern in Afrika. Er gehörte zu den Gebirgsjägern. Er erzählt, wie er einem Massai Krieger seinen Speer abkaufen wollte und dank seines norwegischen Passes über die Grenze nach Tansania konnte, um den Kilimandscharo zu besteigen.
Ich hänge meine Wäsche auf und gehe kurz rüber zum Bahnhofsgebäude, wo es W-Lan gibt. Empfang habe ich nämlich keinen. Ich wollte morgen um kurz nach 12 Uhr den Zug nach Narvik nehmen, allerdings wurde der Mittagszug wohl gestrichen und jetzt fährt nur noch einmal am Tag um 17 Uhr einer. Stattdessen kann ich aber in die andere Richtung nach Riksgränsen fahren und dort wieder umsteigen in den Zug nach Narvik. Der fährt hier vorbei, hält aber nicht. Wieso einfach, wenn es kompliziert geht. Dann bin ich zumindest gegen 13 Uhr schon in Narvik. Also kaufe ich online ein Ticket. Fahrkartenautomaten gibt es hier nicht an den Bahnhöfen. Und Ticket-Schalter oder andere Menschen auch nicht. Dann schaue ich in die Sendungsverfolgung für meine Kamera. Voraussichtliche Zustellung ist erst am Dienstag, na toll. Solange will ich doch gar nicht bleiben. Vielleicht habe ich ja Glück und die Post ist doch schneller. Also buche ich erstmal ein Hotelzimmer für 2 Nächte und kann hoffentlich am Sonntag weitergehen.
Als ich wiederkomme, stehen Kaffe, Tee und Kekse auf dem Tisch im Wohnzimmer. Wir quatschen bis fast 10 Uhr und schauen zusammen auf die Wanderkarten. Ketil ist sehr beeindruckt von meiner Route nur durch Norwegen. Er meint, er kenne niemanden, der das durchgezogen hat. Die Norweger, die er kenne, hätten dann doch mal ein oder zwei Kilometer durch Schweden abgekürzt und geschummelt. Ich hätte unbewusst einige Routen gewählt, die früher von den Flüchtlingen benutzt wurden oder auch von Soldaten. Ketil ist nämlich auch noch Historiker und kennt sich irgendwie mit allem und überall in den norwegischen Bergen aus. Auch meinen weiteren Weg schauen wir uns an und überlegen eine mögliche Route. Es steht nämlich nochmal ein Stück querfeldein an.
Er sammelt viele Kräuter und Pflanzen und trocknet sie. Diese hier trinken wir als Tee. Die gelben schmecken leicht nach Kamille. Ich weiß aber nicht, was es ist. Wir haben die Pflanzen nicht gefunden in dem Buch, was er mal von einem Gast geschenkt bekommen hat über Pflanzen im Fjell. Mit deutscher Bezeichnung und auch in allen skandinavischen Sprachen. Echt praktisch. Weiß jemand, was es ist?
Irgendwann kann ich mein Gähnen nicht mehr zurückhalten, auch wenn es ein richtig schöner und spannender Abend ist und verabschiede mich ins Bett.