Obwohl ich erst um 7 Uhr losgehe, packe ich meinen Rucksack auf dem Flur. Im Lager schlafen noch alle. Draußen herrscht eine schöne Stimmung. Die Sonne versteckt sich noch hinter den Wolken, ein paar Strahlen bahnen sich aber schon den Weg ins Tal.
In leichtem Auf und Ab geht es über die Wiese. Gut, dass die dunklen Wolken hinter mir in die andere Richtung ziehen. Vor mir ist es hell und freundlich.
Ich küre übrigens heute die Wilden Männle zu meinen alpinen Lieblingsblumen. Sie wachsen auf bis zu 2700 Metern Höhe und sind so schön wild frisiert. Sie sind stark gefährdet, also nicht pflücken!
Der Pfad führt unterhalb der Weißschrofenspitze entlang. Er ist felsig, schmal und ausgesetzt. Manche Stellen sind mit Drahtseilen gesichert. Links geht es steil hinunter, stolpern wäre hier gar nicht gut.
Bis zum Matunjoch geht es weiter über Felsen und steile Geröllhänge. Oft durch tiefe Rinnen im Hang, wo man ein paar Schritte steil runter muss auf dem rutschigen Schotter, dann wieder hoch. An ein paar Stellen muss ich ein bisschen puzzeln, wo ich meine Füße hin setze.
Rechts zu der Senke, über den Schneefeldern, geht es hoch.
Eigentlich freue ich mich schon, dass es heute über einen Gipfel geht. Je näher ich komme, desto mehr lässt meine Freude jedoch nach. Als ich oben am Joch ankomme, schaue ich auf 2 große Bergstationen der Seilbahnen und breite Schotterpisten. Auch auf dem Valluga Gipfel kann man schon vom weitem noch eine Bergstation erkennen. Das ist kein Gipfelkreuz, was man da oben sieht. Hier gefällt es mir gar nicht. Im Winter herrscht hier massiver Skitourismus, im Sommer sieht die Landschaft ziemlich mitgenommen aus.
Mir kommen ein paar Kletterer entgegen. Der Blick zurück auf die Weißschrofenspitze ist ganz schön. Dort oben über den Grat führt der Arlberger Klettersteig. An dem Einstieg bin ich auf dem Weg hoch vorbei gekommen.
Am Valfagehrjoch kann ich unter mir die Ulmer Hütte sehen. Die überspringe ich aber. So wie es aussieht, muss man die breite Schotterpiste hinab, darauf kann ich verzichten. Ich müsste nämlich sowieso denselben Weg wieder zurück, da es von hier weiter geht über die Valluga.
Also geht es am Geröllhang und über Schneefelder unterhalb des Jahnturms weiter zur Mittelstation der Vallugabahn.
Die letzten Meter muss man noch über ein paar Felsen klettern. Mir kommen 2 Leute entgegen, die mit der Bahn hoch gefahren sind und jetzt runter zur Hütte laufen wollen. Sie sind aber scheinbar nicht wandererfahren und fragen mich etwas ängstlich, ob der Weg die ganze Zeit so bleibt. Als ich an der Mittelstation ankomme, kommen die nächsten beiden auf mich zu. Übrigens alle dick eingepackt in langen Klamotten und ich stehe hier in meinem Top und kurzer Hose, ziemlich verschwitzt. Sie befragen mich auch nach dem Weg zur Ulmer Hütte und ob ich ihnen das zutrauen würde. Im Hotel unten im Tal würde der Weg als einfach beschrieben stehen. Das sollte wohl mal geändert werden. Für Unerfahrene würde ich den Weg definitiv nicht als einfach bezeichnen. Als ich weitergehe, werde ich nochmal von ein paar Frauen angehalten und wieder nach demselben Weg gefragt. Ich komme mir vor wie die Wander-Auskunft. „Die kommt doch von unten, frag sie mal.“
Hinter der Station geht es jetzt steil hinauf. Allerdings stehe ich erst etwas ratlos da. Ich sehe ein paar Markierungen und Drahtseile, der Weg sieht aber eher aus wie ein Klettersteig. Da soll ich hoch? Eventuell führt rechts noch ein anderer Weg hoch, aber das Geröll sieht auch so steil und rutschig aus. Also folge ich doch den ziemlich neu aussehenden Markierungen. Laut Karte gibt es nur einen Weg, also bin ich richtig. Mein Handy sagt auch, dass ich mich auf dem richtigen Weg befinde. Über große Felsblöcke und ein paar Eisenbügel klettere ich hinauf. Die ersten Meter klappen noch ganz gut. Dann stehe ich vor einer senkrechten Felswand mit 2 Eisenbügeln. Der letzte Schritt von dem zweiten Eisenbügel auf den Fels oben ist aber viel zu hoch, als dass ich mein Bein da hoch bekommen würde. Und jetzt? Ich klammere mich am Seil neben mir fest, stehe da und komme nicht weiter. Ich klettere erstmal wieder ein Stück runter, wo ich mich hinsetzen kann. Unter mir stehen die ganzen Seilbahn-Touristen und starren zu mir hoch. Ich wünsche sie mir alle weg. Wenn jetzt andere Wanderer hier wären, hätten sie schon längst gefragt, ob alles in Ordnung ist und man hätte sich gegenseitig geholfen. Ich überlege, ob ich zurück gehe und doch zur Ulmer Hütte. Von dort soll es noch einen einfacheren Weg geben. Allerdings ist es immer leichter die Felsen hinauf zu klettern. Runter traue ich mich gerade auch nicht. Dann höre ich, wie von oben ein paar Leute runterkommen. Gut, dann kann ich ja schauen, wo sie hergehen. 3 von ihnen rutschen das Geröll hinab und lösen eine ganze Menge Steinschlag aus. Mich wundert, dass sie dabei noch lachen. Das könnte ziemlich gefährlich werden, gut dass niemand unten im Weg steht. Der vierte folgt den Markierungen und kommt an mir vorbei. Es scheint wirklich nur dieser eine Schritt zu sein, den ich schaffen muss, danach sieht es besser aus. Also noch ein Versuch.
Ich klettere wieder hoch und stehe auf dem zweiten Eisenbügel. Von unten habe ich noch eine Kerbe im Fels gesehen, in die ich mit der Schuhspitze treten kann. Damit habe ich noch einen Zwischentritt. Allerdings traue ich mich nicht den Fuß voll zu belasten. Ich habe zu viel Angst abzurutschen. So stehe ich noch ein paar Minuten da und probiere verschiedene Möglichkeiten aus, mich am scharfkantigen Fels festzuhalten und meinen Fuß in die Kerbe zu drücken. Man darf an solchen Stellen echt nicht anfangen darüber nachzudenken, was alles passieren kann, falls man abrutscht. Nach zig Anläufen überwinde ich mich zu dem Schritt. Ich atme nochmal tief durch und hebe langsam mein linkes Bein über die Kante. Geschafft! Ich habe zwar wieder ein blutiges Schienbein, weil ich am Fels entlang geratscht bin, aber das stört mich gerade weniger. Ich klettere bis zum Grat weiter über Felsen hoch, jetzt aber deutlich einfacher und nicht mehr ganz senkrecht. Was nicht heißt, dass die Konzentration nachlassen darf.
Hier der Blick zurück zur Mittelstation. Rechts darüber sieht man auch noch jemanden, der gerade auf einer schmalen Stufe an den Fels gedrückt steht und absteigt.
Auf dem Grat angekommen, ist es nicht mehr weit zum Gipfel. Von hier hat man auch schon eine ziemlich geniale Sicht.
Kurz vor dem Gipfel geht mein Weg wieder runter. Da will ich jetzt noch gar nicht dran denken, es sieht steil und rutschig aus. Eigentlich reicht mir das an Nervenkitzel für heute. Aber jetzt erstmal auf den Gipfel. Oder besser gesagt, auf die kleine Bergstation und Aussichtsplattform, die den schmalen Gipfel einnehmen. Echt nicht schön hier. Trotzdem ist der Rundumblick phänomenal. Heute hat man auch eine weite Sicht bei dem perfekten Wetter. Das zweite Foto ist extra für meine Schwester, man kann nämlich bis zum Hochvogel gucken.
Auf ein Gipfelfoto habe ich aber gar keine Lust hier oben auf der Valluga auf 2809 Meter Höhe.
Also mache ich mich wieder an den kurzen und felsigen Abstieg zu meiner Abzweigung. Über diese Brücke drüber. Bevor es dann über das Geröll steil hinab geht.
Ich gehe häufig in die Hocke oder setze mich kurz hin vor dem nächsten Schritt, damit ich mehr Kontrolle habe. Dann kann ich kleinere Schritte machen und rutsche nicht so schnell weg. Mal geht es an der Felswand und Drahtseilen entlang gerade und steil runter, dann wieder in Kehren.
Als ich irgendwann den restlichen Weg unter mir sehen kann und es nicht mehr ganz so steil ist, atme ich auf. Und dann kommen die Tränen. Ganz plötzlich. Ich setze mich mitten in den Geröllhang und weine. Ich weiß auch nicht genau, wieso. Wahrscheinlich fällt die ganze unterschwellige Angst und Anspannung von mir ab. Vielleicht kommt alles zusammen, der blöde Gipfel, die knifflige Stelle beim Aufstieg, der rutschige Abstieg, die ganzen anspruchsvollen Wege in den letzten Tagen. Ich wünsche mir mal wieder einen einfachen und schnöden Weg, wo ich ohne viel Konzentration die Füße voreinander setzen kann. Trotzdem bin ich doch auch jetzt gerade super glücklich hier oben in den Bergen zu sein.
Nach ein paar Minuten hören die Tränen auf und ich gehe weiter. Ich will noch den restlichen Geröllhang runter und dann Pause machen, wo es flacher ist. Also gehe ich noch bis zur Wegkreuzung, wo es den anderen Weg zur Ulmer Hütte und zur Stuttgarter Hütte geht. Gut, dass ich beim Aufstieg nicht umgedreht und über die Ulmer Hütte gegangen bin. Der Weg durch die Trittscharte ist nämlich gesperrt. Dann hätte ich wahrscheinlich einen riesigen Umweg durch das Tal machen müssen.
Zur Stuttgarter Hütte ist nur noch eine Stunde ausgeschildert und es ist noch früh. Ich kann schon die Materialseilbahn sehen, die Hütte muss also irgendwo rechts hinter dem Berg liegen. Der Weg sieht nicht mehr schwierig aus. Also setze ich mich und mache eine lange Pause.
Ich koche mir eines meiner momentanen Lieblingsgerichte, Kartoffelpürree mit Kidneybohnen und Röstzwiebeln. Dann gibt es noch Nüsse, getrockneten Apfel und ein paar Stücke dunkle Schokolade. Jetzt geht es mir wieder besser. Und ich freue mich auch schon auf das Essen auf der Hütte. Gestern habe ich nämlich gehört, dass es Dumplings gibt, was ja eher ungewöhnlich ist.
Gestärkt mache ich mich an den restlichen Weg. Einen Pfad weiter am Geröllhang entlang, dann über Wiesen. Jetzt aber ohne viel Höhenunterschied, nur noch ein bisschen runter. Ich schlafe in der Stuttgarter Hütte auf 2310 Meter Höhe.
Die Hütte wird von einem nepalesischen Pärchen geführt, deswegen auch die Dumplings. In Nepal heißen sie aber Momo. Gedämpfte Teigtaschen, in der vegetarischen Variante mit Spinat gefüllt und mit scharfer Sauce dazu. Super lecker! Als ich vor 2 Jahren mit meiner Schwester in Kambodscha war, waren Dumplings eine unserer Lieblingsspeisen.
Ich sitze den restlichen Nachmittag noch draußen vor der Hütte in der Sonne. Höre den Kuhglocken zu, entspanne meine Beine und genieße die Aussicht. Später sitze ich mit 3 Ulmern am Tisch, Gabi, Olli und Alexander. Es ist ein richtig schöner Abend. Wir unterhalten uns gut. Ich freue mich immer, wenn ein spannenderes Gespräch zu Stande kommt, was über die üblichen Fragen zu meiner Wanderung hinaus geht.
Monika
oh sophia – dieser bericht liest sich wie ein krimi, mit flauem magen las ich von deinem einstieg, den du doch gut gemeistert hast. du hast mut… das denke ich immer wieder, wenn ich deine berichte lese und die fotos sehe.
noch eine gute zeit und schöne wege für dich – monika
Anna
Super geschrieben wieder! Genau die Route zur Stuttgartner Hütte hab ich auch vor dann zu gehen 🙂 Es gibt ja mehrere Möglichkeiten aber die gefiel mir von der Beschreibung am Besten – du hast es mit deinen Bildern und Beschreibung bestätigt 🙂 Ja ich kenn das, mir erging es ähnlich vor drei Jahren in den Schladminger Tauern – es war ein sehr anstrengender Tag die Route anspruchsvoll durch Schneefelder, abgerissenen Weg etc. ich war mental einfach fertig und brauchte dann mal eine lange Pause bis die ganze Anspannung komplett weg war. Herzliche Gratulation an dieser Stelle zur Durchschreitung der Lechtaler Alpen!!
Lisi
Oh Pi, ich drücke dich so fest❤️
Charly
Wie ein spannendes Buch :-), danke dafür!! Und deine Fotos sind wirklich gut!! Endlich jemand der nicht nur „knipst“ ;.) RAW und Lightroom….Daumen hoch!!!
Genieße die letzten Tage und bleib stark!
Liebe Grüße
Sophie
Danke 🙂 Ja, bei den Fotos bin ich ein bisschen anspuchsvoller! Freut mich, dass sie gut ankommen.
Bernhard
Sehr detailreiche Beschreibung, wie ich sie zuvor noch von niemandem gelesen habe – nicht einmal in diversen Wanderführern. Die Wand beim Aufstieg auf die Valuga ist aber auch richtig gemein…hätte man ruhig einen Bügel mehr einbauen können. Aber geschafft ist geschafft! Gratulation und jetzt geht es ins Finale.
Alexander
Hallo Sophia, schön dich auf der Stuttgarter Hütte kennen gelernt zu haben. War ein sehr nettes und interessantes Gespräch. Riesen Respekt für dieses Projekt. Wünsche dir noch viel Erfolg für die restlichen 2 Wochen. Bleib gesund, viele Grüße, Alexander
Thomas Kuhn
Hi Sophie,
Guido und ich sind diese Etappe im Spätsommer 2020 in Gegenrichtung gelaufen (auf dem Lechtaler Höhenweg von West nach Ost).
Da schien er mir deutlich weniger herausfordernd, als Du ihn nun in Ost-West-Richtung erlebt hast. Insbesondere „unser“ Aufstieg von der Stuttgarter Hütte durch das Schotterfeld zur Valluga und der Abstieg von der Gipfel- zur Mittelstation (über den verkappten „Klettersteig“) ging sich in West-Ost-Richtung erheblich leichter.
Möglichweise sind da übers Jahr (von 20 auf 21) ein paar Griffe, Tritte oder Bügel verloren gegangen, dass es bergauf so zäh war. Oder es geht an der Stelle abwärts einfach leichter.
Das nur als Hinweis an mögliche Interessenten, die sich unsicher sind, in welcher Richtung sie diese Etappe gehen wollen.
Liebe Grüße
Thomas
(vom Prielschutzhaus)